Georg Hoffmann-Ostenhof: Warum Königsberg zu Kaliningrad wurde – und immer noch so heißt

Georg Hoffmann-Ostenhof: Stalins Zärtlichkeit

Georg Hoffmann-Ostenhof: Warum Königsberg zu Kaliningrad wurde – und immer noch so heißt

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Fünf Männer treffen einander in Pariser Bistros, Parks und auf Partys und parlieren über Frauen, Geschichte und Philosophie. Davon handelt „Das Fest der Bedeutungslosigkeit“, der neueste, gerade auf Deutsch erschienene Roman des tschechisch-französischen Schriftstellers Milan Kundera. Das jüngste Œuvre dieses großen Ironikers, der uns nicht zuletzt mit „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ faszinierte, lässt mich nach der Lektüre ratlos zurück. Handlung gibt es eigentlich keine. Ob die Reflexionen seiner Protagonisten echt tiefsinnig sind oder bloß intellektuelle Pose, und wohin das Räsonieren führen soll – all das erschließt sich mir nicht. Bin ich zu dumm für dieses Buch oder aber ist dieses Alterswerk des 86-jährigen Autors einfach schlecht? Ich weiß es nicht.

Hängen geblieben bin ich aber an einer Passage, in der Kundera eine seiner Figuren einen Vortrag über Kaliningrad halten lässt: Leningrad wurde nach dem Untergang des Kommunismus wieder St. Petersburg, Stalingrad mutierte zu Wolgograd. Und Karl-Marx-Stadt ist wieder Chemnitz.

Warum aber heißt das ehemalige Königsberg, die jetzige russische Exklave zwischen Litauen und Polen, weiter nach Michail Iwanowitsch Kalinin? Und warum wurde die Stadt überhaupt nach diesem Sowjetpolitiker benannt? Kalinin bekleidete von 1923 bis 1946 das rein zeremonielle Amt des Präsidenten des Obersten Sowjets und war damit protokollarisch der höchste Regierungsvertreter. Er war ohne Macht, ein Knecht Stalins, „eine absolute Null“. Warum also „schenkte“ der Kreml-Herr die Ostsee-Stadt just dem kurz zuvor gestorbenen Kalinin – und nicht etwa einem im Vaterländischen Krieg gegen Hitler siegreichen General?

Nach der Kundera-Version hängt das mit der vergrößerten Prostata des alten Kalinin zusammen. Der bedeutungslose Obergenosse musste sehr oft pinkeln gehen. Bei großen Festreden konnte er diese Schwäche kaschieren. Seinem übermächtigen Harndrang geschuldete Unterbrechungen wurden – zur Freude des Publikums – mit Musik- und Tanzeinlagen überbrückt. Als Stalin aber einmal im Kreis der Sowjet-Granden wie üblich Anekdoten von sich gab, brachte Kalinin nicht den Mut auf, mit seinem Austreten zu stören. „Zumal Stalin beim Erzählen starr den Blick auf ihn richtete, auf sein Gesicht, das immer blasser wurde und sich zu einer Grimasse zusammenzog.“ Der Sowjet-Diktator verzögerte absichtlich die Pointe seiner Ausführungen. Erst als er wusste, „dass Kalinin seinen großen Kampf wieder einmal verloren hatte, ging er zum Finale über und beendete mit fröhlichem Lächeln die Sitzung“. Kalinin hatte sich aber hinter einem Stuhl postiert, um seine nasse Hose zu verdecken.

Dennoch habe der „Satan des Jahrhunderts“, schreibt Kundera, für Kalinin „eine außergewöhnliche Zärtlichkeit“ gehegt. Längst hatte der Massenmörder seine Fähigkeit zu Mitgefühl und Mitleid abgetötet. Abseits der großen Massaker war er nun mit einem kleinen, individuellen und verständlichen Schmerz konfrontiert, der ihn rührte. „Die Wiederentdeckung eines Gefühls, das er seit Langem aufgehört hatte zu empfinden, war für ihn von unsagbarer Schönheit.“ Dafür bedankte er sich bei Kalinin, indem er ihm posthum eine Stadt vermachte.

So die witzig-poetische Geschichtsinterpretation Kunderas. Die Antwort auf die Frage aber, warum Kaliningrad noch immer Kaliningrad heißt, bleibt Kundera schuldig.

Ein Erklärungsversuch: Nach dem Sieg über Hitler verleibte sich die Sowjetunion die einst rein preußische Hansestadt ein. Sie war weitgehend zerstört. Ein gewaltiger Bevölkerungsaustausch fand statt. Deutsche machen heute weniger als ein Prozent der Stadtbürger aus. Seit der Unabhängigkeit der baltischen Staaten ist Kaliningrad vom russischen Kernland direkt nur über Wasser oder durch die Luft zu erreichen. Auf dem Land müssen drei Grenzen passiert werden. Die Situation ist prekär.

Es gab Bestrebungen, zum früheren Namen Königsberg – oder zur russisch-umgangssprachlichen Version Kjonigsberg – zurückzukehren. Gegner unterstellten aber revanchistische Hintergründe und meinten, damit würden nur etwaige Eigentumsrechte von Heimatvertriebenen bekräftigt. Das überzeugte. Die Lage der von EU- und NATO-Staaten eingeschlossenen Exklave ist heute vor dem Hintergrund der zunehmenden Spannungen zwischen Russland und dem Westen noch prekärer als zuvor. Der neu aufgeflammte West-Ost-Konflikt garantiert jedoch eines: Die inkontinente Null an der Stalin’schen Sowjetspitze bleibt bis auf Weiteres der Namensgeber der einstigen preußischen Krönungsstadt.

Im Übrigen gibt es noch eine andere russische Großstadt, die weiter den Namen eines prominenten Sowjetpolitikers trägt. Sergei Mironowitsch Kirow, ein Hardliner im Stalin’schen Politbüro, galt Anfang der 1930er-Jahre als „Liebling der Partei“. 1934 fiel er einem Anschlag zum Opfer. Das Gerücht, dass Stalin selbst den Mordauftrag gegeben hat, weil er Kirow als potenziellen Rivalen fürchtete, ist bis heute nicht verstummt. Nur wenige Tage nach Kirows Tod wurde die östlich von Moskau gelegene Stadt Wjatka nach ihm benannt. Und Stalin nahm das Kirow-Attentat zum Vorwand, den bereits begonnenen Massenterror noch weiter zu verschärfen.

Auch da gab es in den 1990er-Jahren Initiativen für eine Namensänderung. Die Bevölkerung wollte aber nicht. Sie hatte sich an Kirow gewöhnt. Und so blieb es.

Zwei kleine interessante Geschichten über Stadtnamen, denen man, um mit Kundera zu sprechen, einen gewissen Charme der Bedeutungslosigkeit nicht absprechen kann.

Georg Hoffmann-Ostenhof