Georg Hoffmann-Ostenhof: Verbaute Zukunft
Wieder werden Nachrufe auf die Sozialdemokratie geschrieben. Ihr unvermeidlicher Untergang wird an die Wand gemalt. Und nicht nur vom Klassenfeind. Auch so manchem Linken dämmert, dass das, was vielfach noch als historische Unpässlichkeit verstanden wird, in Wirklichkeit die finale Krankheit sein könnte. Es sieht unglaublich düster aus, schreibt etwa Neal Lawson, Denker der britischen Labourpartei und Politkommentator, in einem viel beachteten Text mit dem Titel: Die Sozialdemokratie steckt in der Existenzkrise.
Es sieht für die Sozis in Europa tatsächlich nicht gut aus. Man denke nur an die traurige Gestalt des französischen Präsidenten François Hollande und den deplorablen Zustand von dessen Sozialisten und an die Unfähigkeit der SPD, trotz ihrer erfolgreichen Aktivitäten in der Regierung von Angela Merkel aus dem historischen Tief von 24 Prozent Zustimmung herauszukommen.
Dass sich die traditionellen Parteien der demokratischen Linken in Griechenland und Spanien Pasok und PSOE im Zustand des Verschwindens befinden, mag ebenfalls als Menetekel gelten. Und über das Elend der SPÖ wurde anlässlich ihres jüngsten Parteitages und der blamablen 83,9 Prozent für Werner Faymann ausführlich berichtet.
Über die Ursachen der sozialdemokratischen Misere, und wie die Genossen aus dieser doch noch herausfinden könnten, wird allerorten klug analysiert und spekuliert. Ein Aspekt, der gerade auch in Österreich wichtig ist, blieb bisher freilich unterbelichtet: die Frage, wie sich die demokratische Linke zur Migration stellt.
Das Genie der Sozialdemokratie und der Arbeiterbewegung lag von Anfang an darin, dass sich die Gescheitesten der Gesellschaft mit den ärmsten und, wie man heute sagen würde, bildungsfernsten Schichten verbündeten. Nicht zuletzt diese Allianz der Intelligenz (der Geist wehte die längste Zeit von links) mit der in der Industrialisierung aufsteigenden Arbeiterschaft erschien geradezu unwiderstehlich. Die Zukunft wähnte man auf seiner Seite. Und in den Vorstädten sang man: Mit uns zieht die neue Zeit.
Spätestens seit Ende des vorigen Jahrhunderts ist diese Allianz zerbrochen. Das Milieu der manuellen Arbeiter, die traditionelle Basis der Sozialdemokratie, schrumpft immer mehr. Die zentrale Stellung in der Gesellschaft hat die Arbeiterschaft längst verloren. Die neue Zeit zieht nicht mehr mit ihr. Im Gegenteil, die Zeit arbeitet gegen sie. Und so wurden die bisherigen Kernschichten der Sozialdemokratie, aus der Zukunft getreuen Kämpfern, deren zunehmend frustrierte Gegner, die sich en masse anschickten, zu den gestrigen Kräften des Rechtspopulismus zu desertieren.
Flatterhaft, und opportunistisch, wie der Geist nun mal ist, haben sich die Intellektuellen gleichfalls aus dem alten Bündnis davongemacht: sozialdemokratische Intelligenz wird zunehmend zu einer aussterbenden Gattung.
Ganz verschwunden sind die Unterschichten, die einst für die Linken die Hoffnung auf eine bessere Welt inkarnierten, natürlich nicht. Ihre Zusammensetzung hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten aber verändert.
In Österreich zumindest bilden in ihnen die Ausländer, die Zugewanderten vom Balkan, aus der Türkei, aus den östlichen und westlichen EU-Ländern, inzwischen eindeutig die Mehrheit. Dass etwa in Wien die Kinder mit Migrationshintergrund tatsächlich in den Schulklassen dominieren, ist nicht FP-Propaganda, sondern Tatsache.
Die Migranten aber sind in ihrer Mehrzahl mitnichten demoralisiert und defensiv wie viele ihrer hier einheimischen Kollegen. Im Gegenteil: Die Ausländer sind zukunftsorientiert, sie wollen etwas: gesellschaftliche Anerkennung und sozialen Aufstieg etwa. Vor allem aber arbeiten sie für ein besseres Leben für sich und ihre Kinder. Deshalb haben die meisten ja ihre alte Heimat verlassen.
Sie sind in der österreichischen Gesellschaft von heute ein ähnlich dynamisches Element wie seinerzeit, vor über 100 Jahren, die Tschechen und andere Zuwanderer aus den Kronländern, die doch das Gros der Arbeiterklasse (und auch der Gewerbetreibenden) in Wien ausmachten. Sie waren es auch, die Wien Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer pulsierenden Zwei-Millionen-Metropole anwachsen ließen. Und demnächst soll die österreichische Hauptstadt wieder diese Größe erreichen.
Hat die Sozialdemokratie verstanden, dass ihr mit den Migranten und ihren Kindern ein neuer und frischer Bündnispartner erwächst, der sie aus ihrer Agonie führen könnte? Es sieht nicht danach aus.
Die seit eh und je rot geführte Gemeinde Wien macht eine vergleichsweise vernünftige und anständige Ausländerpolitik. Und das wird den Sozis auch bei den Wahlen gedankt. Die Mehrheit der Migranten wählt sie. Aber verlassen kann sich die SP nicht, dass das so bleibt Stichwort Sebastian Kurz.
Vor allem aber: Die österreichische Sozialdemokratie hat alle Verschärfungen des Fremdenrechtes der vergangenen Jahre aktiv mitgetragen. Es ist das wohl restriktivste in der EU: So hoch wie bei uns sind die Hürden für die Erlangung der Staatsbürgerschaft nirgendwo. Kommunales Wahlrecht für hier lebende (Nicht-EU-)Ausländer existiert nicht. Auch sonst wird ziemlich alles getan, den Zuwanderungswilligen zu signalisieren, dass sie nicht willkommen sind. Und den bereits im Lande befindlichen Migranten vermiest man mit allen nur erdenklichen bürokratischen Gemeinheiten das Leben.
Das alles hat die Sozialdemokratie mit zu verantworten. Und verbaut sich letztlich damit ihre eigene Zukunft.
Natürlich hat ihre Existenzkrise, von der Neal Lawson spricht, mehrere Gründe. Bei uns dürfte aber die Migrationsfrage in ihrem Zentrum stehen. Noch ist Zeit für einen radikalen Schwenk der SPÖ, noch kann sie umkehren und ihre verheerende Ausländerpolitik revidieren. Ein Blick auf die demografischen Prognosen macht aber klar: Sie muss sich sputen. Bald könnte es zu spät sein.