Georg Hoffmann-Ostenhof: Verwaiste Mitte
Den Sozis geht es miserabel. Fast überall. Die Kommentarseiten und Feuilletons überschlagen sich in der Beschreibung und Analyse der linken Krise. Vielstimmig werden die Nekrologe auf die internationale Sozialdemokratie angestimmt. Und es stimmt ja: Die meisten über Jahrzehnte hinweg gewachsenen Mitte-links-Parteien befinden sich im Sinkflug.
Viel geringeres Augenmerk wird auf die Tatsache gerichtet, dass die traditionellen Mitte-rechts-Parteien, seien sie nun christlich-konservativ, christlich-sozial oder liberal-konservativ, mindestens ebenso „am Sand“ sind wie die Sozialdemokraten. Die Parteien des bürgerlichen Zentrums besetzen international zwar mehr Machtpositionen als die Sozialdemokraten – und mehr als noch vor wenigen Jahren –, die Existenzfrage stellt sich für sie aber nicht weniger als für ihre linken Gegenspieler:
- Wir erleben gerade live, wie es die Tories zerreißt. Die Konservativen Großbritanniens stolpern dramatisch über den von ihnen ohne Not inszenierten und jeder Vernunft spottenden Brexit. Ob die Traditionspartei der britischen Eliten diesen politisch überlebt, ist völlig ungewiss.
- In den USA wiederum sind die Republikaner bereits am Ende. Die Grand Old Party (GOP) existiert faktisch nicht mehr. Diese einst stolze Traditionspartei scheint unter Präsident Donald Trump fast zu einer rechtsextremen Sekte verkommen zu sein, deren Funktionäre und teilweise auch Wähler ihrem Anführer blindlings wie einem Guru folgen.
- Die italienischen Christdemokraten sind bereits Anfang der 1990er-Jahre untergegangen. Aber selbst der schon sehr seltsame Quasi-Ersatz dieser lange regierenden Mitte-Partei, die Forza Italia des Silvio Berlusconi, ist heute nur noch einstellig. In Rom regieren die faschistoide Lega und die Fünf-Sterne-Bewegung, eine Partei, die selbst nicht weiß, ob sie links- oder rechtspopulistisch ist.
- Der noch vor Kurzem gefeierte liberale Reformpräsident Emmanuel Macron hat in der Wählergunst stark abgebaut. Davon aber profitiert mitnichten die bisherige Partei der französischen Bourgeoisie: Die Republikaner, die neuerdings versuchen, das Rassemblement National der Marine Le Pen rechts zu überholen, grundeln bei zehn Prozent.
- Der deutschen CDU geht es da noch relativ gut. Mit der Wahl von Annegret Kramp-Karrenbauer zur Nachfolgerin Angela Merkels als Parteichefin wurde gerade noch verhindert, dass die konservative Volkspartei scharf nach rechts abdriftet. Ihr Abstieg dürfte jedoch nicht gestoppt sein. Und die CDU ist gespalten wie noch nie in ihrer Geschichte.
Die Krise der konservativen Volksparteien ist besorgniserregend.
Sozialdemokratische Genugtuung, dass es den konservativen Volksparteien auch dreckig geht, mag verständlich sein. Angebracht ist das aber nicht. Denn deren Niedergang ist letztlich brandgefährlich.
So sieht es zumindest der Harvard-Politologe Daniel Ziblatt. In seinen beiden Bestsellern „How Democracies Die“ und „Conservative Parties and the Birth of Democracy“ stellt er folgende Grundthese auf: Wie liberale Demokratien entstehen, leben und sterben, hing im 19. und 20. Jahrhundert weniger vom jeweiligen Lebensstandard, von der Politik der Arbeiterbewegung oder nationalen Besonderheiten ab als vielmehr von der Stärke der konservativen Parteien.
Er zeigt auf, dass dort, wo die alten Eliten gut organisierte und einheitliche Parteien bildeten, die an der Wahlurne gewinnen konnten, sie die Ausdehnung des Wahlrechts und die Entwicklung eines politischen Pluralismus tolerierten. Dort aber, wo die Konservativen zersplittert, schwach und wenig selbstbewusst waren, wurde die demokratische Entwicklung blockiert und behindert – was in weiterer Folge letztlich zu rechten Diktaturen und Faschismus führte.
Ziblatt vergleicht vor allem England und Deutschland, dehnt aber seine komparative Analyse auf ganz Europa und auf die heutige Zeit aus. Aktuell beklagt er den Niedergang der US-Republikaner, die in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend ihren zivilisatorisch-rechtsstaatlichen Kern verloren haben, um sich schließlich voll in die Arme des wüsten Nationalisten und Antidemokraten Trump zu werfen.
Wenn heute von der Krise der Demokratie gesprochen wird, dann ist – so der amerikanische Professor – diese wohl weniger von den aufsteigenden Rechtsextremen selbst bedroht als vielmehr von jenen konservativen Mitte-Parteien, die nicht die moralische, politische und historische Kraft aufbringen, sich von diesen abzugrenzen, sondern sich im Gegenteil gemeinsam mit ihnen auf den Weg in Richtung der „illiberalen Demokratie“ begeben. Siehe Österreich.
Die Krise der konservativen Volksparteien ist besorgniserregend. Umso erfreulicher aber, dass die bürgerliche Mitte, aus der die traditionellen Parteien immer häufiger nach rechts fliehen, kein Vakuum bleiben muss: In Frankreich ist der Liberale Macron mit seiner Republique en Marche aufgetaucht. Auch anderswo sind Liberale stark im Kommen. Die immer pragmatischer werdenden europäischen Grünen stoßen da gleichermaßen ins gefährlich verwaiste Zentrum vor. Und in einigen konservativen Volksparteien setzt sich dann doch wieder der zivilisierte Flügel durch.
In Österreich scheinen freilich die Uhren ein wenig anders zu gehen. Bisher jedenfalls.