Georg Hoffmann-Ostenhof: Weg von Bagdad
Wenn die Kurden am 25. September im Nordirak abstimmen, ob sie einen unabhängigen Kurdenstaat wollen oder nicht, werden sie mit überwältigender Mehrheit bei „Ja“ ihr Kreuzerl machen. 96 Prozent wollen weg von Bagdad. Das ergibt eine jüngst durchgeführte Umfrage. Populär ist das geplante Referendum freilich nur bei den Kurden selbst. Sonst sind fast alle dagegen.
Die irakische Zentralregierung hat naturgemäß wenig Sympathie für die Sezession. Das Assad-Regime in Syrien will von einer kurdischen Staatlichkeit im Norden des Irak ebenfalls nichts wissen. Diese könnte Vorbild und Inspiration für die eigenen Kurden werden, die – wie die Brüder jenseits der Grenzen – wesentliche Teile des Landes bereits unter Kontrolle gebracht haben. Erdogan und seine Leute, die in einem blutigen Krieg mit den eigenen Kurden stehen, mit den nordirakischen aber verbündet sind, bestürmen Massud Barzani, den Regierungschef der autonomen Kurdengebiete, doch noch auf das Referendum zu verzichten. In Ankara fürchtet man die Ansteckungsgefahr.Und der Iran wettert gegen die geplante Abstimmung, würde doch ein unabhängiger Kurdenstaat Bagdad, wo derzeit schiitische Alliierte Teherans regieren, schwächen.
Auch sonst sehen sich Barzani und Co. in ihren Souveränitätsbestrebungen allein gelassen. (Nur Israel gibt sich freundlich und spekuliert darauf, dass ein Kurdenstaat den Erzfeinden Irak und Iran schaden würde). Moskau sagt Njet. Und USA und EU dringen darauf, das Referendum zumindest zu verschieben. Der Kampf gegen die Terrormiliz IS, an dessen vorderster Front die Kurden stehen, sei noch nicht zu Ende, wird argumentiert. Und es geht in den westlichen Staatskanzleien die Angst um, eine kurdische Unabhängigkeit würde ein neues Konfliktfeld in der instabilen Region eröffnen – mit unabsehbaren Konsequenzen.
Sollte Barzani unter diesen widrigen Umständen nicht doch noch das Referendum abblasen? Oder auf dieses überhaupt verzichten? Zunächst: Verdient haben sich die nordirakischen Kurden ihren Staat allemal. Sie sind geradezu ein nahöstliches Wunder. Nach dem ersten Golfkrieg 1991, der für sie mit einem furchtbaren Massaker durch Saddam Hussein endete, bauten sie in dem Vierteljahrhundert danach eine politische und gesellschaftliche Struktur auf, die in dieser Region ihresgleichen sucht: Geschützt durch eine Flugverbotszone, die von Amerikanern und Engländern gegen Saddam verhängt und durchgesetzt wurde, entwickelten sich in diesem autonomen Kurdengebiet Parteienpluralismus, Rechtsstaatlichkeit und Säkularismus. Gewiss herrscht da nicht Westminster-Demokratie. Probleme gibt es genug. Aber gemessen an dem, was man sonst in dieser wüsten Region mit ihren Diktaturen und Glaubens- und Stammeskriegen kennt, wirkt das irakische Kurdistan geradezu wie ein Leuchtturm der Zivilisation und Aufklärung.
Während weite Teile des Nahen Ostens, auch der Irak, wirtschaftlich stagnieren, ist die kurdische Wirtschaft aufgeblüht – nicht zuletzt dank des Ölreichtums. Nicht nur das: Aufbauend auf den Jahrzehnte, ja Jahrhunderte langen Erfahrungen im Widerstand gegen die wechselnden Unterdrücker, entwickelten sich die Peshmergas, wie die Kämpfer da genannt werden, zu einer vergleichbar mächtigen und überaus fähigen Armee. Sie ist die entscheidende Kraft gegen den IS. Ohne sie wäre Mossul nicht befreit worden. Der Westen baut fest auf die kurdische Schlagkraft.
Alle inneren Voraussetzungen für eine Staatsbildung wären also gegeben. Bloß mit der Anerkennung durch die Außenwelt hapert es. Und werden nicht Bagdad und die Nachbarstaaten nach dem 25. September alles unternehmen, um das unabhängige Kurdistan zu verhindern?
Zweifellos. Ankara und Teheran etwa, sonst – vor allem auch auf dem syrischen Schauplatz – zutiefst verfeindet, haben bereits eine gemeinsame Strategie gegen die Kurden vereinbart. Mit Waffengewalt gegen diese im Irak vorzugehen, haben aber weder die Iraner noch die Türken vor. Und Bagdad weiß: Die irakische Armee hätte allein gegen die Peshmergas keine Chance. Und schließlich will Barzani am 25. September nicht die sofortige Unabhängigkeit ausrufen, sondern sich bloß das Mandat für Verhandlungen über einen kurdischen Exit geben lassen.
Unmittelbare Gefahr für einen neuen Krieg besteht nicht. Warum sollte die Autonomie-Regierung ihr Referendum, wie die Westmächte vorschlagen, auf später verschieben? Nein, der Zeitpunkt ist goldrichtig. Die Kurden haben gerade einen Lauf. So stark wie jetzt, waren sie noch nie. Und die internationale Öffentlichkeit ist ihnen, dank ihrer zentralen Rolle im Krieg gegen die islamistische Terrormiliz, freundlich gesonnen. Wie schnell sich das alles ändern kann, haben sie in ihrer Geschichte immer wieder leidvoll erlebt: Sie wurden nur allzu oft von Bündnispartnern verraten und von vermeintlichen Protektoren fallen gelassen.
So unübersichtlich das nahöstliche Panorama auch sein mag – sicher ist: In den kommenden Jahren wird dort kein Stein auf dem anderen bleiben. Die Karten werden neu gemischt. Mit dem Unabhängigkeitsreferendum geben sich die Kurden jedenfalls eine starke Karte in die Hand. Diesmal wollen sie nicht Opfer der Geschichte sein.