Georg Hoffmann-Ostenhof: Wer ist schuld?
Wie kann Europa mit der gewaltigen Flüchtlingswelle, die an unsere Gestade anbrandet, fertigwerden? Diese existenzielle Frage steht in diesen Tagen im Vordergrund. Was kann und muss getan werden, diesen Exodus zu „managen“, wie kann das millionenfache Leid gemindert werden? Doch über all diesen so drängenden Zukunftsaufgaben soll nicht die Vergangenheit vergessen werden. Es gilt auch die Frage zu stellen, wie die Katastrophe überhaupt zustande gekommen ist. Und wer und was an ihr Schuld trägt.
Natürlich steht hinter der Tragödie ein vielfältiges Geflecht an Ursachen. Wenn man aber in der jüngsten Geschichte eine Person nennen will, die wirklich Verantwortung für das Desaster hat, dann fällt einem zuallererst ein Name ein: Ex-US-Präsident George W. Bush.
Er war es, der 2003 den Einmarsch im Irak befehligte, ohne die geringste Ahnung zu haben, was dann, nach dem Sturz des Tyrannen Saddam Hussein, zu tun sei. „Wohl der dümmste Staatsmann der Nachkriegszeit“, sagt der französische Geopolitik-Spezialist Bernard Guetta, „hat das regionale Gleichgewicht zwischen Sunniten und Schiiten zerstört, erst so recht den Iran und Saudi-Arabien in Frontstellung gegeneinander gebracht und eine blutige Diktatur durch ein noch blutigeres Chaos ersetzt.“
Gehen wir in der Ursachenforschung noch ein wenig weiter in der Geschichte zurück.
Die amerikanischen Invasoren zerschlugen an Euphrat und Tigris jegliche staatliche Struktur und lösten die irakische Armee auf. Damit wurde der Boden für jene Allianz zwischen den irakischen Sunniten und den Islamisten bereitet, die nun gegen die Schiiten die Waffen ergriff. Die ehemaligen Offiziere Saddams schlossen sich dann – in der Hoffnung, wieder einen sunnitischen Staat etablieren zu können – den Kämpfern der Terrormiliz „Islamischer Staat“ an und gaben ihr erst jene militärische Stärke, die es ihr ermöglichte, in großen Teilen des Irak und Syriens ihr barbarisches Kalifat zu errichten. So gesehen war George W. Bush der Hauptverantwortliche für die Implosion der Nahostregion.
Gehen wir in der Ursachenforschung noch ein wenig weiter in der Geschichte zurück. Nicht bis in die Kolonialzeit und das Osmanische Reich, Epochen, die den historischen Hintergrund für die aktuelle Situation abgeben, aber doch bis zum Kalten Krieg, in dem die Supermächte in ihrer globalen Ost-West-Konfrontation jeweils die ihnen freundlich gesinnten Diktaturen in der Region hätschelten, finanzierten und aufrüsteten. Diese wiederum unterdrückten ihre Opposition und verhinderten jegliche demokratische Entwicklung und das Entstehen dessen, was heute Zivilgesellschaft genannt wird.
Nicht genug damit: Der Westen – allen voran die Amerikaner – päppelten fallweise gemeinsam mit „ihren Schurken“ im Kampf gegen die Sowjets und die säkular-linken Kräfte in der Region islamische Gruppierungen auf – am spektakulärsten die Mudschaheddin in Afghanistan, in deren Milieu in der Folge die Taliban, Al Kaida und andere dschihadistische Organisationen ein breites Rekrutierungsfeld fanden. Auch dass der ehemalige Präsident Ägyptens, Hosni Mubarak, ein Bündnispartner des Westens, die Moslembrüder als einzige ernsthafte oppositionelle Kraft duldete, ist in diesem Licht zu sehen.
Die arabischen Diktaturen überdauerten das Ende des Kalten Krieges. Nun boten sie sich den Weltmächten als Garanten der nahöstlichen Stabilität und als Bollwerk gegen den muslimischen Fanatismus an. Was dem Westen Mubarak, war den Russen Syriens Bashar al-Assad. So sahen sich die arabischen Völker vor die fatale Alternative gestellt: Diktatur oder Islamismus. Bis sie aus dieser furchtbaren Sackgasse auszubrechen versuchten. 2011 gingen in den Metropolen der arabischen Welt Millionen auf die Straße. Aber sie begannen nicht, im Namen Allahs die Tyrannen zu verjagen. Und nicht der Koran leitete sie an, sondern die universalistischen Werte der Menschenrechte, Freiheit und Demokratie.
Und was passierte mit jenen, die vor vier Jahren aufgebrochen waren, die arabische Welt aus Stagnation und Resignation in die Moderne zu führen? Sie haben sich auf den Weg nach Europa gemacht.
Diese junge und moderne Generation der urbanen Mittelschicht, die in den vorangegangenen Jahren erwachsen geworden war und nun auf die politische Bühne trat, war aber zu schwach. Es gelang der Arabischen Revolution zwar, einige der unterdrückerischen Regime zu stürzen, doch alsbald wurde sie völlig aufgerieben: zwischen den Islamisten, welche die Bewegungen des Arabischen Frühlings schnell usurpiert hatten, und den Kräften der Diktatur, die zum Gegenschlag ausholten. Einige Staaten, etwa Ägypten, erlebten eine Restauration der Autokratie, andere, wie Syrien, versanken in wüsten Bürgerkriegen, die noch dazu immer mehr den Charakter von Religionskriegen annahmen.
Und was passierte mit jenen, die vor vier Jahren aufgebrochen waren, die arabische Welt aus Stagnation und Resignation in die Moderne zu führen? Sie haben sich auf den Weg nach Europa gemacht. Man sehe sich nur die jungen Menschen an, die nun, von der wochenlangen, lebensgefährlichen Reise erschöpft, in Nickelsdorf und auf dem Wiener Westbahnhof ankommen und weiter in den Norden wollen. Ähneln diese Flüchtlinge, die dem Terror und dem Krieg entkommen sind, mit ihren Englischkenntnissen, ihren Handys und ihren offenen und hoffnungsvollen Blicken nicht jenen jungen Arabern, die damals vor vier Jahren in den Straßen des Morgenlands den Aufstand probten – und scheiterten? Zum Teil sind es sogar dieselben Leute.
Und was lehrt uns dieses Making-of der aktuellen Völkerwanderung? Eines jedenfalls: Dass der Westen insgesamt Mitschuld an der Tragödie trägt und daher nicht nur eine abstrakt-moralische Verpflichtung zur Hilfe hat. Und dass auch Amerika, das sich bisher weitgehend unberührt von den Ereignissen zeigt, einem Teil der Geflohenen eine neue Heimat bieten muss. Nicht nur Europa.