Georg Hoffmann-Ostenhof: Westfalen in Nahost
Bis vor Kurzem war allerorten die Rede davon, dass im Nahen Osten – angesichts der grauenhaften Entwicklung in Syrien und dem Irak sowie dem Aufstieg und den Erfolgen des sogenannten Islamischen Staats IS – ein neuer Dreißigjähriger Krieg tobt. Eine resignative Sicht auf die Dinge: Wie im Europa des 17. Jahrhunderts werde ein chaotischer und grausamer Religionskrieg mit changierenden Frontverläufen und Allianzen ohne Aussicht auf einen absehbaren Friedensschluss bis zur allgemeinen Erschöpfung ausgekämpft; und niemand habe es in der Hand, dem sinnlosen Schlachten ein Ende zu bereiten. So schien es bisher.
Seit einigen Wochen freilich kann man sich wieder vorstellen, dass der Krieg, der die ganze Region zu devastieren droht, doch nicht 30 Jahre dauern wird müssen. Da kommt einiges in Bewegung. Vor allem ist Wladimir Putins Russland im Morgenland aufgetaucht und kommt mit Bombern dem in Bedrängnis geratenen Damaszener Diktator Bashar al-Assad zu Hilfe, auf dessen Konto bereits über 250.000 Tote gehen.
Auf den ersten Blick scheint dies brandgefährlich. Ein zusätzlicher bewaffneter Mitspieler kann doch die Situation nur weiter eskalieren, sollte man meinen. Obwohl Moskau behauptet, nur den IS treffen zu wollen, haben die Russen in den ersten Tagen auch andere sunnitische Rebellen attackiert – selbst solche, die Amerika ausgebildet hat oder im Kampf gegen Assad unterstützt. Droht da nicht eine direkte Konfrontation Russlands mit den USA, die ihrerseits ebenfalls aus der Luft den IS angreifen?
Sicher besteht diese Gefahr. Durch den Eintritt Russlands in den Krieg kann dieser noch blutiger werden. Aber es gibt auch eine andere, eine weniger bedrohliche Lesart der jüngsten Ereignisse. Und nach der wird eine sich verstärkende Interessenskonvergenz der verschiedenen regionalen und internationalen Akteure sichtbar, die eine breite Anti-IS-Allianz denkbar erscheinen lässt.
Die Hoffnung, dass ein Westfälischer Frieden des Nahen Ostens nicht erst in drei Jahrzehnten geschlossen wird, erscheint nicht völlig absurd.
Russland. Sicher will Putin mit seinem verstärkten Nahost-Engagement aus der Isolation herauskommen, in die er sich mit seinen Ukraine-Aktionen hineinmanövriert hat. Er will Amerika zwingen, ihn wieder als wichtigen Partner zu akzeptieren. Auch dürfte die Behauptung Moskaus stimmen, dass der IS die nationale Sicherheit Russlands bedrohe, vor allem im Kaukasus, woher viele der Kalifatskämpfer stammen. Schließlich sind sich alle Nahostbeobachter einig, dass es Putin weder um einen vollen militärischen Kriegseintritt noch um das Schicksal Assads gehe. Diesen braucht er aber, um bei möglichen zukünftigen Verhandlungen über die Zukunft Syriens eine Karte in der Hand zu halten, die er ausspielen kann.
USA. Die Regierung Obama steht für einen tendenziellen Rückzug Amerikas aus Nahost. Nach mehreren Fiaskos – Afghanistan, Irak, Libyen – hatte Washington bisher wenig Lust, sich noch einmal in einen Konflikt dieser turbulenten Region hineinziehen zu lassen. Die Luftangriffe auf den IS blieben bisher eher symbolisch, real ziemlich erfolglos. Das verstärkte Russland-Engagement in Syrien zwingt die USA aber nun, den Nahen Osten wieder als Teil ihrer nationalen Sicherheit zu sehen. Mit dem Iran-Deal haben Obama und seine Leute zudem in Teheran, das im syrisch-iranischen Chaos eine wesentliche Rolle spielt, einen potenziellen Alliierten.
Iran. Wie für Moskau ist auch für Teheran das politische Überleben ihres Verbündeten Assad keine Herzensangelegenheit. Die Iraner wollen – wie die anderen Mächte der Region auch – ihren Einfluss behalten und verstärken. Gleichzeitig sind sie, die gerade den Status des Schurkenstaates losgeworden sind, bestrebt, als Partner auf der Bühne der internationalen Politik anerkannt zu werden.
Europa. Bisher weitgehend politisch im Nahen Osten absent, hat die Flüchtlingswelle, die an die europäischen Gestade anbrandet, in dramatischer Weise klar gemacht, wie sehr die Ereignisse in Syrien, Irak und Afghanistan die vitalen Interessen Europas betreffen. Man weiß jetzt: Der Aufbau eines gemeinsamen europäischen Asyl- und Einwanderungsregimes ist absolut dringlich. Aber nicht nur. Es gilt, aktiv mit den anderen an einem Ende des Krieges und an der Pazifizierung des Gebiets zwischen Euphrat und Tigris und dem Mittelmeer zu arbeiten.
Nachbarn. Schließlich bedroht der IS gleich in mehrerer Hinsicht die angrenzenden Staaten: Jordanien, der Libanon und die Türkei (die obendrein noch ihr Kurden-Problem hat) haben Flüchtlinge in einem Ausmaß aufgenommen, das langfristig kaum zu bewältigen ist. Auch Länder, die niemanden über ihre Grenzen lassen, wie Saudi-Arabien, sind durch den IS in ihrer Existenz bedroht. Denn das Kalifat stellt die Grundlagen des gesamten Nahen Ostens infrage. Obwohl immer wieder kritisiert wird, dass die Grenzen in dieser Region willkürliche – von den ehemaligen Kolonialmächten gezogene – Linien sind: Diese haben doch eine gewisse Stabilität garantiert. Ihr Wegfall würde die ganze Region in völliges Chaos stürzen und damit jedes einzelne der dort herrschenden Regime gefährden. Und eine der Linien – die syrisch-irakische – hat der IS bereits ausradiert.
So unterschiedlich die externen und internen Player in diesem mörderischen Spiel auch sein mögen, und so sehr sie einander als Erzfeinde sehen – sie haben alle ein gerüttelt Maß an gemeinsamen Interessen. Die Hoffnung, dass ein Westfälischer Frieden des Nahen Ostens nicht erst in drei Jahrzehnten geschlossen wird, erscheint nicht völlig absurd.