Georg Hoffmann-Ostenhof: Wir und der Sultan
Seit der von Angela Merkel forcierte Flüchtlingspakt der EU mit der Türkei unterzeichnet wurde, vergeht kein Tag, an dem nicht vielstimmig beklagt wird, wie sich Europa vom immer autoritärer regierenden Recep Tayyip Erdoğan erpressen lasse. Auch jetzt, da die EU-Kommission ganz offiziell die baldige Visafreiheit für die Türken empfiehlt, ertönt lautstark die Kritik, Europa wäre „vor dem Sultan eingeknickt“.
Das mag auf den ersten Blick so aussehen. Aber ist das wirklich so?
Die zwischen Brüssel und Ankara abgemachte Aufhebung der Visumspflicht war längst fällig. Der positive Abschluss der bereits viele Jahre hindurch geführten Verhandlungen war ohnehin für kommendes Jahr geplant gewesen. Im Übrigen erschienen die empfindlichen Reisebeschränkungen für die Türken immer schon als feindseliger Akt. Mehrere Hundert Millionen Menschen aus mehr als 50 Ländern der Welt – darunter die USA, Kolumbien und Südkorea – benötigen keine extra Erlaubnis für einen Kurzaufenthalt im Schengen-Raum. Auch EU-Beitrittskandidaten wird dieses Recht üblicherweise eingeräumt, derzeit zum Beispiel so vertrauenswürdigen Ländern wie Serbien, Albanien und Montenegro. Nur eben der Türkei nicht.
Dass sie bis dato langwierige bürokratische Hürdenläufe absolvieren müssen, bevor sie ihre Verwandten in Deutschland und Österreich besuchen, zum Sightseeing nach Rom fahren oder ihre Geschäftspartner in einem der EU-Länder treffen können, erscheint den Menschen aus Istanbul, Ankara oder Izmir als erniedrigende Schikane. Und sie haben Recht.
Ebenso erbittert die Türken, wie Europa mit seinem vor langer Zeit gegebenen Beitrittsversprechen verfuhr. Da hieß es plötzlich aus Berlin, Paris und Wien: Nein, wir wollen eigentlich kein EU-Mitglied Türkei. „Privilegierte Partnerschaft“ sei das äußerste, was man am Ende bieten könne. Die Beitrittsverhandlungen wurden eingefroren. Und das zu einem Zeitpunkt, als Erdoğan voll auf Reformkurs segelte und sein autokratischer Schwenk noch nicht vollzogen war.
Es stimmt: Wenn die Verhandlungen jetzt – unter ungünstigeren Bedingungen als zuvor – „zügig wieder aufgenommen“ werden, dann geschieht das, weil man die Türken in der Flüchtlingsfrage dringend braucht. Gerechtfertigt war die Unterbrechung des Beitrittsprozesses aber niemals. Aus Angst vor den xenophoben Wählern haben die europäischen Staatskanzleien die Türken durch Jahre hindurch überaus schäbig behandelt.
Natürlich nützen diese nun ihre geografische Lage aus. Das nennt man Geopolitik. Aber kann da von Erpressung gesprochen werden? Sind etwa die sechs Milliarden Euro, die Europa den Türken dafür zahlt, dass sie nach Griechenland „illegal“ übergesetzte Flüchtlinge zurücknehmen, wirklich abgepresst? Das ist sicher viel Geld. Aber Hand aufs Herz – für Europa sind sechs Milliarden letztlich ein Klacks. Man bedenke: Die Abenteuer der Kärntner Hypo allein kosten Österreich das Doppelte dessen, was nun die gesamte EU an Ankara überweisen soll. Und das ist kein schlecht investiertes Geld: Zumindest ist die Zahl der Syrer, Iraker und Afghanen, die an den Gestaden der griechischen Inseln ankommen, in den vergangenen Wochen bereits drastisch gesunken.
Mindestens so sehr wie Europa die Türkei braucht die Türkei Europa, will sie aus ihrer Misere herauskommen.
Ein „schmutziger Deal“, so wird nun das Abkommen mit den Türken vielfach kritisiert. Das ist verständlich angesichts der größenwahnsinnigen Anwandlungen Erdoğans, der bedenklichen Menschenrechtssituation im Land und dem wiederaufgeflammten Krieg gegen die Kurden. Aber es geht dabei um mehr als bloß um schnöde Realpolitik mitsamt ihren moralischen Verwerfungen. Übersehen wird: Der Flüchtlingsdeal signalisiert auch, dass sich Ankara nach Jahren der Entfremdung wieder Europa zuwendet.
Erinnern wir uns: Auf die europäischen Zurückweisungen hat die Türkei seinerzeit mit einer Umorientierung ihrer Außenpolitik reagiert. „Zero Problems“ mit den nahöstlich-zentralasiatischen Nachbarn hieß die Devise. Und das schien erfolgreich zu sein. In Kairo waren die mit Ankara verbündeten Muslim-Brüder an der Macht. Gute Beziehungen unterhielt man mit Syriens Assad. Versöhnung mit Armenien kündigte sich an. Mit den Kurden ebenso. Und die Wirtschaft boomte. Die Erdoğan-Herrschaft wurde allseits geradezu als Modell einer gelungenen islamischen Demokratie gepriesen.
Das Glück währte freilich nur kurz. Heute – nach dem gescheiterten Arabischen Frühling und konfrontiert mit dem syrischen Bürgerkrieg – hat Ankara Probleme mit allen Nachbarn. Die Türkei ist in der Region isoliert. Ökonomisch kriselt es gewaltig. Und das Regime Erdoğans degeneriert zunehmend.
Mindestens so sehr wie Europa die Türkei braucht die Türkei Europa, will sie aus ihrer Misere herauskommen. Die Wiederaufnahme der Verhandlungen mit Brüssel, bei denen es gerade um Fragen der Menschenrechte, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit geht, hätte zumindest das Potenzial, den endgültigen Absturz der Türkei in Tyrannei und Chaos aufzuhalten.
Die Frage ist nur, ob es dazu nicht schon zu spät ist. Die Chancen, die sich bieten, müssten beide Seiten ergreifen. Auch die türkische. Dass Präsident Erdoğan gerade Ahmed Davutoğlu, seinen Premierminister, der den Deal mit Europa so erfolgreich ausverhandelt hat, abserviert hat, stimmt nicht gerade hoffnungsfroh.