Georg Hoffmann-Ostenhof

Georg Hoffmann-Ostenhof Wunderbare Inder

Wunderbare Inder

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Ein eigenartiges Desinteresse der internationalen Medien begleitet seit Langem die indische Politik. Die Wahlen in diesem asiatischen Staat mit seinen 1.166.000.000 Einwohnern fanden auch diesmal kaum Platz auf den ersten Seiten der Weltpresse. So wie damals 1999. Erinnern wir uns: Da triumphierte in Österreich die FPÖ von Jörg Haider und zur gleichen Zeit in Indien die hindunationalistische Rechtspartei BJP. Der „Rechtsruck in Österreich“, die politische Wende in diesem nicht sehr bedeutenden europäischen Kleinstaat, machte global Furore. Der Sieg der gegen die Moslems hetzenden BJP – sie regierte dann fünf Jahre – in dem atomar gerüsteten, zweitbevölkerungsreichsten Land der Welt erzeugte jedoch keine Schlagzeilen. Seltsam. Es muss klar gesagt werden: Indiens Politik verdient mehr Aufmerksamkeit als bisher. Gerade auch angesichts der aktuellen Wahlen.

Nicht erst seit „Slumdog Millionaire“ erschüttert uns die bittere Armut in den Slums von Bombay oder Kalkutta. Das dort herrschende Elend prägt das Bild, das wir uns von diesem Land machen. Wir staunen gleichzeitig über den Bollywood-Boom. Die anlaufende Produktion des 2000 Dollar kostenden Nano-Autos mag auch so manchen faszinieren. Die kürzlich zu Ende gegangenen indischen Wahlen aber sind das wirkliche Wunder – ein politisches Ereignis, das wert ist, weltweit gefeiert zu werden, wie die britische Zeitung „Guardian“ meint.

400 Millionen Inder, 60 Prozent der Wahlberechtigten, haben ihre Stimme abgegeben: Das war die größte Wahl in der Geschichte der demokratischen Welt. Sechs Millionen Beamte und Sicherheitsleute beschützten die Menschen, die an 1,5 Millionen elektronischen Maschinen ihr Votum eintippten. Und siehe da: Trotz Drohungen durch Terroristen, trotz Unruhen verlief der Urnengang weitgehend friedlich und fair. Selbst in Provinzen, wo seit Jahr und Tag gekämpft wird, wie in Kaschmir, wurde eine hohe Wahlbeteiligung registriert.

Aber auch das Wahlergebnis grenzt an ein Wunder: Inmitten der Wirtschaftskrise – und Indien ist, wenn auch geringer als andere Länder, ebenfalls von ihr erfasst – votierten die Menschen nicht für die Populisten von rechts, für die BJP, die damals 1999 den Sieg davontrug, auch nicht für die antiliberalen Kräfte von links, sondern für das aufgeklärte säkulare Zentrum: für die Kongresspartei. Vorausgesagt war eine regionale und politische Zersplitterung. Das Gegenteil passierte. Mit der Kongresspartei wurde die älteste Partei Indiens (sie wurde vor 124 Jahren gegründet) als führende Regierungspartei bestätigt und weiter gestärkt – jene politische Kraft, die geradezu idealtypisch die sprachliche, soziale, ethnische und religiöse Vielfalt dieses Riesenreichs inkorporiert. Symptomatisch der alte neue Premier: Der allseits geschätzte, in Oxford ausgebildete liberale Ökonom Manmohan Singh ist mit seinem blauen Turban und weißen Vollbart als Sikh erkennbar. Die Sikhs sind eine kleine, 15 Millionen Menschen zählende Minderheit im Land, aus der auch die Mörder der Regierungschefin Indira Gandhi stammten. Multikulti in Aktion. Indiras Schwiegertochter, die italienische Katholikin Sonja Gandhi, führt die Kongresspartei an.

Ihr Sohn, der 38-jährige Rahul Gandhi, gilt als Hoffnungsträger der Partei. Rahul repräsentiert die fünfte Generation der Dynastie. Der Ururgroßvater kämpfte schon an vorderster Front für die Unabhängigkeit. Dessen Sohn Pandit Nehru war nach dem Abzug der Briten der erste Ministerpräsident des Landes. Nehrus Enkel, der Sohn von Indira Gandhi, Rajiv Gandhi – 1991 von tamilischen Terroristen umgebracht –, war der Mann von Sonja und der Vater von Rahul. Mindestens so erstaunlich wie diese Familienkontinuität erscheint aber auch, wie elegant und erfolgreich es den Gandhis immer wieder gelingt, das Dynastische mit der Demokratie zu verbinden. Sicherlich eine historische Einmaligkeit.

Die Inder haben nicht bloß die Dynastie gewählt. Der Kongresspartei, der man schon mehrmals den sicheren Untergang prognostiziert hatte, ist es in den vergangenen Jahren an der Regierung gelungen, sowohl Indien für den Weltmarkt zu öffnen, was ihr die Stimmen des wachsenden Mittelstands eintrug, als auch die unteren Schichten mit effektiven Programmen gegen die Armut für sich zu gewinnen. Man kann also durchaus in den pathetischen Jubel des US-indischen Politologen Sadanand Dhume einstimmen, wenn er schreibt: Indien zeige, „dass Demokratie und Entwicklung Hand in Hand gehen können“. Dass Indiens Ökonomie inmitten der Weltwirtschaftskrise um fünf Prozent wächst, „gleichzeitig aber die Demokratie funktioniert und die Politik sich eines lebendigen Pluralismus erfreut – all das beweist: Demokratie ist nicht bloß eine Sache des Westens.“

Für die Region ist der Sieg der Kongresspartei ein Segen. Man stelle sich vor, die Hindunationalisten der BJP hätten gewonnen. Wie hätten diese Moslems hassenden Populisten doch weiter destabilisierend auf die Situation in Pakistan gewirkt. Von der gestärkten Kongress-Regierung in Delhi wird erwartet, dass sie den Entspannungskurs gegenüber Islamabad fortsetzen wird: Das könnte wesentlich dazu beitragen, den mörderischen Zerfallsprozess, der diese zentralasiatische Region erfasst hat, zu bremsen. Und noch eins: Jenen, die andauernd über die Krise der Demokratie lamentieren und bereits ihren Untergang ahnen, sei vor Augen geführt: In nur einem halben Jahr haben wir in so unterschiedlichen großen Ländern wie dem entwickeltsten Industriestaat des Westens, den USA, und dem von Armut geplagten asiatischen Subkontinent Indien gesehen, dass die Demokratie, wenn es darauf ankommt, allen Unkenrufen zum Trotz ihre volle Vitalität und Kraft entfalten kann.

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Georg Hoffmann-Ostenhof