Georg Hoffmann-Ostenhof: Zeitgeistreich

Drei Nachrichten, die zeigen, dass Verzweiflung angesichts der schockierenden weltpolitischen Entwicklungen doch nicht angebracht ist.

Drucken

Schriftgröße

Der Zeitgeist ist auch nicht mehr das, was er einmal war. Woher er weht, darüber scheint Einigkeit zu herrschen: von rechts. Nationalisten sind im Aufschwung; Hass und Hetze sind immer und überall; die Irrationalität erobert die Macht; und die Demokratie steckt in der Krise. Angesichts dieser Weltläufe verdüstert sich das Gemüt des aufgeklärten Zeitgenossen.

Hier sei auf drei Nachrichten hingewiesen, die ein wenig Licht in diese dunklen Tage bringen, aber auch zeigen, dass der Zeitgeist heute eine viel widersprüchlichere Erscheinung ist, als vielfach angenommen wird. Polen: Jarosław Kaczyński ist eingeknickt. Mitte vergangener Woche entschied der Chef der regierenden nationalistisch-konservativen Partei PIS und starke Mann Polens, die von seiner Regierung betriebene, umstrittene Zwangspensionierung oberster Richter rückgängig zu machen. Nach einem neuen Gesetz sollten diese bereits mit 65 statt wie bisher mit 70 in die Rente geschickt werden. Damit hätte die Regierung die Gerichte massiv nach ihrem politischen Gutdünken beschicken können. Die EU-Kommission und der Europäische Gerichtshof sahen darin einen dreisten Anschlag auf den polnischen Rechtsstaat und einen großen Schritt in Richtung illiberale Demokratie. Nun gab Warschau gegenüber Brüssel nach: Das Gesetz wurde zurückgenommen.

Małgorzata Gersdorf, die mutige Präsidentin des Obersten Gerichts, die sich bis zuletzt standhaft geweigert hatte, ihren Arbeitsplatz zu verlassen, interpretiert den jetzigen Rückzieher Kaczyńskis weniger als Sieg der EU denn als Erfolg der polnischen Zivilgesellschaft. Sie verweist auf die Hunderttausenden, die gegen die PIS-Regierung und ihr „Justizreform“ auf die Straße gegangen waren, und auf die jüngsten Kommunalwahlen: Da eroberten die liberalen Kräfte, die offensiv proeuropäisch und antinationalistisch auftraten, alle großen und mittelgroßen Städte des Landes.

Deutschland: Nicht so sehr die Radikalnationalisten der AfD profitieren vom tiefen Fall der traditionellen Mitte-Parteien CDU/CSU und SPD. Es sind vielmehr die Grünen, die einen spektakulären Aufstieg erleben. Nicht nur bei der jüngsten Bayern-Wahl verdoppelten sie ihre Stimmen und wurden zur zweitstärksten Partei. Auch auf Bundesebene haben sie die SPD hinter sich gelassen und rücken sogar der konservativen CDU auf die Pelle: Eine jüngste Umfrage gibt den Grünen bereits 23 Prozent, nur drei Prozentpunkte hinter der Union.

USA: Als Anfang November die Midterm-Wahlen geschlagen waren, hieß es allgemein: Nein, ein Erdrutsch sei das nicht. Donald Trump gab sich triumphal. Die konservativen Republikaner, die inzwischen zur Trump-Partei mutiert sind, konnten erwartungsgemäß ihre Mehrheit im Senat verteidigen – da hatten die Demokraten aus strukturellen Gründen keine Chance. Im Repräsentantenhaus – House genannt – errangen die Demokraten zwar eine Mehrheit, aber mit deutlich geringeren Gewinnen als erwartet. So hieß es zumindest am Wahlabend.

Jetzt, Ende des Monats – es wird noch immer ausgezählt –, lesen sich die Wahlresultate anders: Es ist doch eine „blaue Welle“ (die Farbe der Demokraten ist Blau). Und was für eine! 40 Sitze dürften von den Republikanern (deren Farbe ist Rot) zu den Demokraten gewandert sein. Der Demoskopen-Guru Nate Silver stellt fest: „Solch eine gewaltige Verschiebung des Kräfteverhältnisses im House hat es das letzte Mal 1994 gegeben.“ Damals von Blau zu Rot, dieses Mal in die entgegengesetzte Richtung. Trumps gute Laune ist verflogen.

Noch sensationeller als das Wahlergebnis erscheint aber die Wahlbeteiligung. Bei Midterms ist diese üblicherweise sehr niedrig. Nunmehr stieg sie von 37 Prozent im Jahr 2014 auf 50 Prozent. So viele wahlberechtigte Amerikaner haben das letzte Mal bei Zwischenwahlen vor 104 Jahren (!) ihre Stimme abgegeben.

Krise der Demokratie? Überall steigt die Wahlbeteiligung. Was wir erleben, ist eine allgemeine Repolitisierung.

Jahrelang wurde über Politikverdrossenheit gejammert. Jetzt strömen die Massen zu den Urnen. Nicht nur in den USA. Rekordwahlbeteiligungen gab es auch kürzlich in Bayern und in Polen. Ja, fast überall in Europa machen immer mehr Staatsbürger von ihrem Stimmrecht Gebrauch. Krise der Demokratie?

Was wir erleben, ist eine allgemeine Repolitisierung. Am Anfang dieser Wiederkehr des Politischen standen sicherlich die Rechtspopulisten und -extremen mit ihrer Anti-Establishment-Propaganda. Ob die Nationalisten in Zukunft aber wirklich die Dominanz in diesem historischen Prozess der Um- und Neugruppierung der politischen Kräfte erlangen können? Wohl kaum. Nicht zuletzt die obigen Beispiele lassen schwer daran zweifeln.

Auch die These, dass sich alles immer weiter polarisiert, ist infrage zu stellen. Die Demokraten in Amerika sind zwar, nicht zuletzt angesichts des „Trumpismus“, ein wenig nach links gerückt, aber gewonnen haben in den Wahlkreisen sowohl deklariert linke als auch moderate demokratische Kandidaten. In Polen mobilisieren nicht extreme Kräfte gegen die rechte Herrschaft von Kaczyński und Co., sondern die liberale Mitte. Und im Nachbarland hat sich der neue Rising Star der deutschen Politik, die Grün-Partei, zu einer pragmatischen linksliberalen Pro-Europa-Gruppierung gemausert.

EU und Euro werden zudem, glaubt man den Umfragen, immer beliebter.

Wir sehen: Der Zeitgeist weht nicht bloß aus einer Richtung. Da balgen sich quasi mehrere Zeitgeister. Welcher gewinnt, ist völlig offen.

Georg Hoffmann-Ostenhof