Leitartikel

Gernot Bauer: Es ist ein gutes Land

Wahrheiten können angenehm sein: Österreich zählt zu den modernsten Staaten in der EU – auch wenn das Gegenteil behauptet wird.

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Leonore Gewessler tut, was von einer grünen Umweltministerin im Jahr 2021 zu erwarten ist. Sie lässt Infrastrukturprojekte, die vor Jahrzehnten beschlossen wurden, „evaluieren“; also neu bewerten, nicht streichen. Bundeskanzler Sebastian Kurz warnte dennoch vor einer Rückkehr in die „Steinzeit“. „Voll daneben“ sei dieser „Spruch“, kommentierte dazu der Chefredakteur der „Salzburger Nachrichten“, Manfred Perterer.

Vor allem ist der Spruch eine groteske Verzerrung der Realität. Niemand will, wie Kurz suggeriert, die Zeit zurückdrehen. „Wer glaubt, die Klimakrise bewältigen zu können, ohne etwas zu verändern, der lebt in der Steinzeit“, replizierte Grünen-Klubobfrau Sigrid Maurer. Man muss kein Grüner sein, um ihr zuzustimmen.

Gnadenlose Übertreibungen häufen sich wie extreme Wetterereignisse. Der Ibiza-U-Ausschuss war zweifellos erfolgreich. Die aufgedeckte türkise Günstlingswirtschaft und den Umgang von Kurz, Blümel & Co mit dem Rechtsstaat werden die Wähler bei Gelegenheit ahnden können. Die pauschale Darstellung der ÖVP als moralisch verwahrloste „Korruptionspartei“ war allerdings absurd.

Leicht hysterisch mutet auch das Antikorruptions-Volksbegehren an, dessen Proponenten fürchten, Österreich würde „zu einem rechtsstaatlichen Außenseiter Europas“ werden. Korruption existiert – und sie wird effektiv bekämpft. Die Justiz ermittelt gegen den Kanzler (wegen Verdachts der falschen Zeugenaussage) und den Finanzminister. Offenbar reicht das nicht. Die Organisatoren des Volksbegehrens warnen, „unsere Demokratie“ würde „unterwandert“, „unser sozialer Zusammenhalt untergraben“. Tatsache ist, dass Österreich aufgrund neuer Gesetze „in den vergangenen 25 Jahren weniger korrupt“ geworden ist, wie Hubert Sickinger, führender Experte für Parteienfinanzierung, im März im profil sagte.

So wenig Österreich ein korruptes Land ist, so wenig ist es unbarmherzig. Im April kritisierte die Diakonie, „Österreich“ mache „sich zum Komplizen eines Völkerrechtsbruches“, wenn es Asylwerber in Westbalkanländer abschiebe. Tatsache ist: Seit 2015 hat Österreich im EU-Vergleich überdurchschnittlich viele Flüchtlinge aufgenommen. Das UNHCR-Büro in Österreich schreibt in einer Broschüre: „Es gibt mehrere Gründe, warum in Österreich relativ viele Menschen um Asyl ansuchen. Einer ist sicherlich, dass es ein solides Asylsystem gibt. Noch nicht überall in Europa wird ausreichend Schutz und Unterstützung für Asylsuchende geboten.“ Österreich ist also kein Komplize, sondern Helfer in der Not.

Warnungen vor einem Sozialabbau sind Teil des innenpolitischen Brauchtums, gepflegt von Sozialdemokraten, Freiheitlichen, Grünen, NGOs, Kirchen, Gewerkschaftern. So oft dieser Alarm kommt, so falsch ist er auch. Laut einer aktuellen Berechnung der Statistik Austria stieg die Sozialquote, also der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt, im Vorjahr auf 34,4 Prozent, ein historischer Höchststand. Dem linken Gejammer über den Sozialabbau entspricht das rechte Gesudere über die hohe Steuerlast. Auf Vermögen und Erbschaften gibt es bei uns bekanntlich keine Abgaben. Und der Wirtschaftsstandort bleibt attraktiv – so ungünstig kann die Unternehmensbesteuerung also nicht sein.

Fazit: Ob EU-Kommission, UN-Organisationen oder Weltbank – in allen seriösen Länder-Rankings zur Lebensqualität liegt Österreich ganz vorn, meist im Pulk mit Australien, Kanada, Schweden, Schweiz, Dänemark oder Deutschland. Wenn es selige Länder in Europa gibt, zählt Österreich dazu. Warum aber fällt es so schwer, diese angenehme Wahrheit auch auszusprechen?

Übertreibung ist ein zulässiges Mittel im politischen Wettbewerb. Die derzeitigen Verzerrungen haben mit der Realität aber nur noch wenig zu tun. Dies liegt am aktuellen Zustand der Republik. Die Abneigung unter den Parteien, vor allem zwischen ÖVP und SPÖ, ist nicht mehr gesund. Das Lagerdenken nimmt wieder zu, die intellektuelle Redlichkeit im politischen Diskurs ab.

Dazu gibt es hierzulande – vor allem in linksliberalen Milieus – noch Reste davon, was der frühere ORF-Chef Gerd Bacher „die Tradition des österreichischen Selbsthasses“ nannte. Als dessen „Urahn“ nannte Bacher Karl Kraus, der schon 1920 in der „Fackel“ schrieb: „Ich habe mich mein Lebtag geschämt, ein Österreicher zu sein, und nie mich dieser Scham geschämt, wissend, dass sie der bessere Patriotismus sei.“ Mündige Bürger eines modernen Staates üben sachliche Kritik, Scham und Selbsthass sind die Reaktion von Untertanen.

Es ist – bei allen Schwierigkeiten – ein gutes Land. Der Nachweis im Schnelldurchlauf: Österreich bekennt sich zur sozialen Marktwirtschaft; schützt seine Minderheiten; fördert die Gleichstellung von Frauen; bemüht sich um die Integration von Zuwanderern; ist sicher; sozial gerecht; bekämpft die
Armut; bietet allen Einwohnern erstklassige medizinische Versorgung; hat eine funktionierende Sozialpartnerschaft; pflegt einen verantwortungsvollen Umgang mit seiner NS-Vergangenheit; bemüht sich um Inklusion und Diversität; zeigt hohes Umweltbewusstsein. Das alles leisten die Republik und ihre Einwohner – und zwar unabhängig davon, ob ein türkiser oder roter Bundeskanzler regiert. So sind wir.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist seit 1998 Innenpolitik-Redakteur im profil und Co-Autor der ersten unautorisierten Biografie von FPÖ-Obmann Herbert Kickl. Sein journalistisches Motto: Mitwissen statt Herrschaftswissen.