Hat uns die künstliche Intelligenz schon überflügelt?
Ein Mitarbeiter des amerikanischen Software-Entwicklers OpenAI namens Vahid Kazemi verkündete kürzlich auf X , sein Unternehmen habe „bereits die AGI erreicht“. Die Aufregung war entsprechend groß. Denn unter „Artificial General Intelligence“ (AGI) versteht der ChatGPT-Entwickler „OpenAI-Systeme“, die „in jeder Hinsicht intelligenter sind als Menschen“.
Kazemi relativierte seine kühne Behauptung zwar ein wenig. Das jetzt veröffentlichte Sprachmodell o1 sei zwar nicht „bei jeder Aufgabe besser als jeder Mensch“, sondern lediglich „bei den meisten Aufgaben besser als die meisten Menschen“. Aber die Botschaft ist im Kern die gleiche: Die KI-Entwickler sind verdammt nah dran an einer Superintelligenz, die unsere menschlichen Fähigkeiten auf vielen Gebieten übertrifft.
Erstaunlich ist nur: Die Menschheit existiert noch, die Maschinen haben nicht die Macht übernommen, es sind bisher kaum Arbeitsplätze verloren gegangen. Weder hat sich die KI verselbstständigt, noch hat es einen lauten Knall gegeben. Man könnte also achselzuckend sagen: Na schön, dann ist die KI halt intelligenter als wir – who cares?
Das neue OpenAI-Modell o1 gilt als das bisher fortschrittlichste „Reasoning“-Modell. Darunter versteht man Sprachmodelle, die mehrstufige Denkprozesse durchführen und komplexe Probleme lösen können. Die Firma selbst behauptet, das Modell habe bereits Doktoranden-Niveau bei der Lösung wissenschaftlicher Aufgaben – und zwar im Gegensatz zum Menschen nicht nur in einem, sondern in sehr vielen Bereichen. Das ist in etwa so, als hätte man die Expertise aus allen möglichen Bereichen gleichzeitig und auf Knopfdruck zur Verfügung.
Die Frage ist, was wir mit diesem Wissen anfangen. Nicht jeder von uns muss in seinem Arbeitsalltag Probleme auf wissenschaftlichem Niveau lösen. Insofern stellt sich die Frage, wozu wir eine solche Superintelligenz brauchen. Die Antwort kann nicht sein, einfach nur die bisherigen Arbeitsprozesse zu automatisieren. Ein Standard-Mail mit ChatGPT zu schreiben, mag Zeit sparen, ist aber im Grunde idiotisch.
Entscheidend wird sein, mit KI radikal neue Aufgaben und Arbeitsabläufe zu erfinden. Das „Revolutionäre“ sind nicht die Fähigkeiten der Modelle, sondern das, was wir mit ihnen machen. So können KI-Systeme uns schon heute bei komplexen Entscheidungsprozessen unterstützen, indem sie einfach mehr Perspektiven und Wissen einbringen, als es menschliche Entscheider je könnten.
Eine der Fragen wird sein, wie wir die menschliche Intuition, das implizite Wissen, das auf langjähriger Erfahrung beruht, mit maschinellen Lernprozessen verbinden. Es geht also darum, Entscheidungsprozesse zu verändern – und damit die Organisationen selbst. Wenn plötzlich jeder Mitarbeiter Zugriff auf jede erdenkliche Expertise hat, sollten dann nicht auch alle mitentscheiden können?
KI-Systeme werden uns sehr wahrscheinlich bald in fast allen Bereichen überlegen sein. Das muss uns Menschen nicht kränken oder unsere Fähigkeiten abwerten. Aber wir brauchen Offenheit und Neugier, um herauszufinden, wie wir mit dieser neuen Superintelligenz umgehen. Wie wir sie am besten nutzen, um unsere Fähigkeiten zu erweitern. Das ist eine ganz neue Bildungsaufgabe auf allen Ebenen der Gesellschaft – in den Schulen, an den Universitäten, am Arbeitsplatz.
Im Jahr 2025 werden wir wahrscheinlich viele neue und immer leistungsfähigere KI-Systeme sehen, von spezialisierten Sprachmodellen für bestimmte Anwendungsbereiche bis hin zu autonomen Agentensystemen, die für uns vollautomatisch Reisen buchen oder Steuererklärungen ausfüllen. Wir werden weiterhin darüber staunen, wie realistisch KI-generierte Videos geworden sind.
Aber die eigentliche Frage wird sein, wie wir KI nutzen können, um unser Leben zu verbessern. Nicht nur in unseren Breiten, sondern weltweit – zur Armutsbekämpfung, für mehr Nachhaltigkeit, für neue Formen der Demokratie, etwa durch KI-moderierte Bürgerbeteiligung. Das ist keine rein technologische Frage. Es ist vielmehr eine Frage, wie wir unsere Zukunft gestalten wollen.