Der Volkskanzler
Die Situation war ja wohl völlig klar. Herbert Kickl hatte die Wahl 2024 mit 30 Prozent der Stimmen gewonnen – also nach FPÖ-Arithmetik mit der klaren absoluten Mehrheit. Wie immer, wenn rechte Parteien nicht das eigentlich gewünschte Ergebnis erzielten, war natürlich Betrug im Spiel, sonst hätte Herbert ja mindestens 104 Prozent erzielt. Das hatten Nachwahlbefragungen von seinen Fans unter seinen Fans ergeben. Aber die noch größere Schweinerei war noch später passiert. Denn die anderen Parteien hatten mit Duldung des vermaledeiten Bundespräsidenten bei den sogenannten Regierungsverhandlungen Herbert einfach kalt lächelnd weggeputscht. Und eine Minderheitsregierung gegen den erklärten Volkswillen gebildet – also mit insgesamt nur etwas mehr als 60 Prozent. Und: ohne ihn!
Nun gut. So war das jetzt eben, und es tat zumindest der ewigen Opferlegende keinen Abbruch. Und auch wenn am Ballhausplatz ein anderer saß und sich dort so wichtigmachen durfte, wie es sich Herbert immer erträumt hatte, war eines klar: Der dort war nur Bundeskanzler. Aber Herbert, Herbert war und blieb der Volkskanzler. Auf Lebenszeit. Gewählt von allen, auf die es ankam.
Am Ballhausplatz mochte vielleicht ein anderer sitzen. Aber der war bloß Bundeskanzler. Also nicht der des Volkes!
Als Volkskanzler hatte man natürlich einen zum Bersten vollen Terminkalender. Mit viel spannenderen Sachen als der blöde Bundeskanzler vorweisen konnte. So begann Herbert den heutigen Tag zum Beispiel gleich einmal mit einem Gipfeltreffen mit allen seinen imaginierten Freunden, also den anderen Führern der freien Welt, also der vom Joch der EU befreiten stolzen Nationalstaaten Europas. Gemeinsam mit den Volkskanzlern von Südtirol, dem Sudetenland, Ostpreußen und Siebenbürgen wollte er heute einen Aktionsplan gegen die unkontrollierte Auswanderung aus ihren Staaten beschließen. Die der Deutschen nämlich. Dieses Problems nahm sich ja sonst natürlich wieder einmal keiner an.
Wenigstens um die Russland-Deutschen musste er sich keine Sorgen machen, die waren dort ja in besten Händen, wie sich ein fantasiebegabtes Kerlchen wie Herbert vorstellen konnte. Und Herbert überzeugte sich davon auch turnusmäßig, wie auch heute wieder, bei seinen Staatsbesuchen in Wladimir Putins Mastdarm. Wenn er also das betrieb, was er seinem klugen und an Weltpolitik extrem interessierten Volk gerne als aktive Neutralitätspolitik verkaufte.
Noch vor der Mittagspause – die der Asket Herbert ohnehin immer sehr kurz hielt, weil er spürte, dass ihn jede Minute, die er in etwas investierte, das ihm Freude machte oder ihn gar entspannte, deutlich weniger aggressiv werden ließ – war ein Meet and Greet mit einigen treuen Fans angesetzt. Die lieben Leutchen erhofften sich heute von Herbert Unterstützung bei den Alltagsproblemen, die sie so hatten – und Herbert nahm sich ihrer natürlich immer wieder gerne an. Heute drehte es sich vor allem um einen Privatkonkurs aufgrund einer schiefgegangenen Investition in ein nigerianisches Fake-News-Start-up. Weiters um schwerwiegende Differenzen mit einem ausländischen Nachbarn, der sich trotz wiederholter autochthoner Abmahnung immer noch weigerte, nicht ausländisch auszusehen. Und schließlich um Hämorrhoiden, bei denen die Schulmedizin mit ihrem Latein leider am Ende war – hier würde nur mehr Handauflegen helfen, so viel war klar. Aber Herbert würde seine Pflicht als Volkskanzler auch diesbezüglich sicher nicht vernachlässigen. Er würde die Augen schließen und es für Deutsch-Österreich machen.
Am Nachmittag stand die Eröffnungsrede beim von der FPÖ kuratierten und international viel beachteten Symposium „Wissenschafter gegen die Wissenschaft“ an. Hier gab es keinerlei Denkverbote, sondern nur freie Rede! Darum war es den Veranstaltern ja auch geglückt, so prominente Forscher wie zum Beispiel den Oberkärntner Lichtesser Ingolf Hirnimann zu gewinnen. Oder auch die russische Selfmade-Onkologin Svetlana Tumorova – die weltweit erste Expertin, die ihr Fernstudium an der renommierten Telegram-Universität sub auspiciis putinis abgeschlossen hatte. Oder last but not least den einzigen objektiven Klimaforscher der Welt, den reinrassigen Buren Haaßwoas Immascho aus Deutsch-Südwestafrika.
Ein Glück war hingegen, dass heute kein Parlamentstag war. Nicht, dass es Herbert nicht im Prinzip genoss, dort am Rednerpult zu stehen und seinen ganzen weißglühenden Hass auf die Welt in die Welt hinauszubrüllen. Aber er war ja bekanntlich auf der anderen Seite auch sehr sensibel. Da konnte man jeden fragen, der noch nie in seiner Nähe gewesen war. Und darum schmerzte es ihn doch sehr, die Regierungsbank, auf die er von rechten Rechtswegen gehört hätte, immer nur von unten zu sehen. Und vor allem zu wissen, dass sich das nie mehr ändern würde. Aber das war eine ganz andere Geschichte.