Narzissmus, Borderline oder eine kleine Zwangsstörung gefällig?
Oftmals haben Taxifahrer ja ausgeprägte geopolitische Analyseambitionen à la „De Hamas, de san ja olle unterirdisch, die lachen über uns im Kölla“, gegen die nur das demonstrative Aufsetzen von Kopfhörern hilft, aber der, von dem hier die Rede sein soll, missbrauchte seine Fahrgästin zur Abwechslung als Seelenmülldeponie. Nach einem drei Bezirke lang dauernden Referat über sein Scheidungsdesaster („Des war a volle Codependency-G’schicht und die Meinige passiv-aggressiv, aber hallo“), unterbrochen nur von Ausrufen in Richtung anderer Autofahrer („Was is mit du? Führerschein in der Lotterie g’wonnen?“), gab’s zum Ausstieg eine Bilanz des gesamtgesellschaftlichen Befindlichkeitsbarometers : „I sag Ihna ans: Momentan ist alles sehr psychisch, leider …“
Da musste man dem Mann insofern recht geben, als dass tatsächlich bei vielen von uns „alles sehr psychisch“ ist, gleichzeitig aber eine flächendeckende Diagnositis von seelischen Zuständen ausgebrochen ist. Küchenpsychologie und Hobbypsychiatrie boomen: An Prosecco-Tränken, in Frisierstuben, in Familienaufstellungssausen und Selbstliebeseminaren wird mit Diagnosebegriffen wie Borderline, Impulskontrollverlust, Persönlichkeitsstörung, ADS (Aufmerksamkeitsstörung), OCD (Zwangsstörung), Soziopathie und PTS (posttraumatische Stressstörung) wie mit Konfetti herumgeworfen. Ich würde dennoch zu behaupten wagen, dass viele dieser Hobbypsychiater:innen (inklusive meiner Person) über die exakten klinischen Koordinaten solcher Störungsfälle nur schemenhaft Bescheid wissen.
Die Menschen könnten sich auf ihren Hintern setzen und kostenfrei über Änderungen in ihrem Verhalten nachdenken.
Natürlich ist zu begrüßen, dass die Wahrnehmungsantennen für psychische Erkrankungen geschärft sind; das senkt das Schamgefühl der Betroffenen und weitet das kollektive Verständnis. Doch nicht alles, was behandelt wird, ist auch eine Krankheit. Das Paradoxon des Psychobooms besteht – überspitzt formuliert – darin, dass immer mehr Menschen von Krankheiten geheilt werden, an denen sie nicht leiden, während noch immer viel zu viele psychisch Erkrankte ihren Leidensdruck verdrängen oder sich die notwendige Psychotherapie schlichtweg nicht mehr leisten können.Das Pendel im Mainstream schlägt in Richtung Dauerpathologisierung jeglichen menschlichen Fehlverhaltens aus. Mittlerweile ist jeder Typ, der an der romantischen Fortführung einer Anbahnung keinerlei Interesse hegt, mit großer Sicherheit „der Ultra-Narzisst“. Jede Beziehung, in der ein bisschen Porzellan fliegt und das verbale Zoffrepertoire in Immer-hast-du-nie-Vorwürfen eskaliert, dreht sich „eh kloar in einer toxischen Spirale“. Und ein Kind, das eine Runde durchs Klassenzimmer galoppieren muss, leidet schnell einmal an ADS.Jeder Mann, dem nach dem Essen ein Bäuerchen entfährt, zelebriert rücksichtlos seine „toxische Männlichkeit“. Männer, die das Pech haben, die 45 überschritten zu haben und mit der Hautfarbe „weiß“ geschlagen zu sein, sind, hört man auf den popkulturellen Diskurs, sowieso reif für die Meinungsmüllhalde.
Denn sie sind „alte, weiße Männer“, von ihren narzisstischen Müttern mit toxischer Männlichkeit abgefüllt, und müssen für allerlei gesellschaftspolitisches Elend herhalten: Rassismus, Gender-Pay-Gap (was in dem Fall aber der uneingeschränkten Wahrheit entspricht), Klimakatastrophe, Finanzkrise, die wachsende Glutenunverträglichkeit oder den Bevölkerungsschwund durch sinkende Spermienqualität (was auch ein bisschen stimmt).„Klar doch“, sagen die Sophie-Passmann-Jüngerinnen, wenn Gegenargumente bei einer Lass-uns-das-behirnen(wie ich dieses Wort hasse)-Klausur von „normativen Cis-Säcken“ kamen: „Alter weißer Mann verträgt eben keine jungen, starken Frauen.“ Aber was sollen diese Typen machen – es den Lemmingen gleichtun?Auf Facebook und Instagram häufen sich inzwischen Selbsthilfegruppen wie „Hilfe, ich liebe einen Narzissten“, „Raus aus der Co-Abhängigkeit“ oder „Fünf Wege, nicht mehr Opfer zu sein“, wo verhärmte Personen im Ich-habe-Leid-erlitten-Tremolo Betriebsanleitungen für Notausgänge aus dem Unglück geben.Auf jedem Smartphone sammeln sich neben der Eikoch-App Psychokrücken in Form von Anti-Depressions- oder Selbstliebe-warum-nicht-Apps.Das Zeitalter der freiwilligen Selbstentmündigung ist angebrochen. Der Popstar der Aufklärungsphilosophie Immanuel Kant hat uns schon 1784 folgende Wegzehrung mitgegeben: „Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstands ohne der Hilfe anderer zu bedienen.“ Die Psychiaterin Heidi Kastner plädiert für eine Reanimation der Intuition und Selbstverantwortung: „Die Menschen könnten sich auf ihren Hintern setzen und kostenfrei über sich und Veränderungen an ihrem Verhalten nachdenken. Was meistens daran scheitert, dass Veränderungen entsprechend anstrengend sind.“Passabler Trost kommt von Sigmund Freud (obwohl die Authentizität des Zitats fragwürdig ist): „Bevor du dir selbst Depression oder einen Minderwertigkeitskomplex diagnostizierst, stelle sicher, dass du nicht einfach nur von Arschlöchern umgeben bist.“