Impfpflicht: Was darf ein liberaler Staat?
Es gehört zu den obersten Einträgen im Pflichtenkatalog des Journalismus, besondere Skepsis an den Tag zu legen, wenn der Staat Grundrechte beschneidet, sei es vorübergehend oder dauerhaft. Noch größer müssen unsere Zweifel sein, wenn die Zustimmung zu einer solchen Maßnahme unter moralischem Druck eingefordert wird; am allergrößten schließlich, wenn plötzlich mehrheitlich Einigkeit darüber besteht, die Maßnahme sei alternativlos. Es geht um die Impfpflicht.
Die österreichische Bundesregierung (über deren aktuelle Zusammensetzung Sie in dieser profil-Ausgabe viel Neues erfahren) hat mit der Ankündigung einer generellen Impfpflicht ab Februar eine Debatte ausgelöst, die mittlerweile weite Teile Europas beschäftigt. In Deutschland will die neue Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP unter Olaf Scholz denselben Weg gehen; in Frankreich fordern Politiker aus allen Lagern wie Anne Hidalgo (Sozialistin), Michel Barnier (Konservativer) oder François Bayrou (Liberaler) die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht, allerdings ist Staatspräsident Emmanuel Macron bisher dagegen; in Griechenland gilt ab Mitte Jänner eine Impfpflicht für über 60-Jährige, kündigte Premier Kyriakos Mitsotakis (Konservativer) an. Zusatz: „Das ist der Preis, den wir für die Gesundheit zahlen.“
Nein, die Impfpflicht ist eben nicht der drastischste Eingriff in die Grundrechte. Sie ist der gelindere.
Im herrschenden Trubel von Irrsinn, Falschmeldungen, und Leuten, die Borniertheit mit Skepsis verwechseln, wird von vernünftigen Leuten ein Einwand vorgebracht, der nicht so einfach weggewischt werden kann: Eine allgemeine Impfpflicht stelle eine überschießende Maßnahme dar. Der Staat habe nicht das Recht, jemanden zu einem medizinischen Eingriff zu zwingen, solange nicht alle anderen Alternativen ausgeschöpft sind. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit wiege schwerer als gesundheitspolitische Strategien.
Was uns zudem noch nachdenklich machen sollte, sind Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit, die zeigen, wie westliche Demokratien angesichts einer Gefahrenlage Maßnahmen ergriffen haben, die den Grundrechten zuwiderliefen – und die sich im Nachhinein als zumindest problematisch herausstellten: Anti-Terrorgesetze in den USA etwa, die unter dem Schock der Anschläge vom 11. September 2001 erlassen wurden; oder auch der nach der Attentat-Serie vom 13. November 2015 in Frankreich verhängte Ausnahmezustand.
So viel zur gerechtfertigten Skepsis.
Ein liberaler, demokratischer Staat braucht sehr gute Argumente, um diese zu überwinden. Sehen wir sie uns an. Das erste: Es gibt nicht wenige Präzedenzfälle, in denen der Staat seine Bürger zu etwas zwingt, um sie vor einer Gefahr zu schützen. In Katastrophenfällen etwa haben die Behörden das Recht, Zwangsevakuierungen anzuordnen. Auch historische oder derzeit noch bestehende Impfpflichten (in Frankreich sind es elf) gelten seit jeher verfassungsrechtlich als unbedenklich. Ein äußerst weitreichender Eingriff ist auch die Wehrpflicht, die in Österreich allen Männern sechs wertvolle Monate ihres Lebens abverlangt – zum Schutz der Allgemeinheit.
Das zweite Argument gilt spezifisch für diese Pandemie: Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass die allgemeine Impfpflicht der bislang drastischste Eingriff in die Grundrechte sei. Tatsächlich stellt der Lockdown eine weitaus umfassendere Beschränkung der Freiheitsrechte dar, weil er das Recht auf Berufsfreiheit, auf Bildung, auf das Familienleben und auf die allgemeine Handlungsfreiheit beschneidet. Wenn also eine allgemeine Impfpflicht weitere Lockdowns verhindern oder verringern kann – und nach Ansicht der maßgeblichen Expertinnen und Experten ist dies der Fall –, muss ein liberaler Staat sich zu dieser gelinderen Maßnahme durchringen. Er verrät dabei nicht seine Werte, sondern er handelt danach.
Ist damit auch die Skepsis zerstreut, die Anti-Terror-Gesetze hinterlassen haben? Ja, denn eine allgemeine Impfpflicht läuft nicht Gefahr, diskriminierend zu wirken, während bei Anti-Terror-Gesetzen regelmäßig bestimmte ethnische oder religiöse Gruppen ins Fadenkreuz der Behörden gerieten.
Bleibt noch die Frage, wie dieses Impfgesetz angewandt werden soll. Besser wohl: nicht allzu streng.
Wenn in den USA ein Hurrikan naht und die Behörden eine verpflichtende Evakuierung anordnen, können in manchen Bundesstaaten bei Zuwiderhandeln Strafen verhängt werden. Doch meistens verzichtet man darauf. Der Sinn der Anordnung besteht darin, möglichst viele Menschen dazu zu bewegen, sich in Sicherheit zu bringen, und nicht darin, hinterher Geldbußen einzusammeln. Der Staat soll sich so großzügig wie möglich zeigen, solange er sein Ziel erreicht – im aktuellen Fall: eine Erhöhung der Impfrate auf rund 90 Prozent.
Es gibt übrigens noch eine gruselige Methode, das Befolgen einer Anordnung schmackhaft zu machen: Im US-Küstenstaat Virginia gingen 2005 vor einem Hurrikan Sicherheitsorgane von Haus zu Haus und malten Bewohnern, die sich trotz Evakuierungsbefehls weigerten, ihre Häuser zu verlassen, deren Sozialversicherungsnummer mit einem nicht abwaschbaren Stift auf den Arm. Das sollte die Identifizierung der Leichen vereinfachen.