Leitartikel

Integrationsprobleme, Wirtschaftsschwäche: Parteien gehen planlos in den Wahlkampf

Eigentlich ist keine Zeit für Politmätzchen, sondern für kluge Konzepte. Doch bei Österreichs Großbaustellen wie Integration und Wirtschaftsstandort wird außer Schuldzuweisungen wenig geboten.

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Ein bisschen neidisch schauen Politikfans nach Großbritannien – und staunen über das rasante Tempo des dortigen Regierungswechsels: Wahl am Donnerstag. Am Freitag Regierungschef und Minister ernannt. Am Samstag fliegt der frischgebackene Außenminister zum Arbeitsbesuch nach Deutschland. Am Montag gibt die neue Finanzministerin das Motto „Wir haben keine Zeit zu verlieren“ aus und startet schwungvoll ihr Programm zur Wirtschaftsbelebung.

Von so einem Blitzstart kann das gemächliche Österreich nur träumen. Zu dem Zeitpunkt, vier Tage nach der Nationalratswahl am 3. Oktober, werden sich die Parteien nicht einmal zur ersten Runde unverbindlicher Sondierungsgespräche getroffen haben, geschweige denn zu ernsthaften Regierungsverhandlungen. Stattdessen werden letzte Wahlkampfbosheiten ausgetauscht und Bestemmhaltungen formuliert werden. Es regiert die Langsamkeit: Im Schnitt dauerten Koalitionsgespräche seit der Jahrtausendwende zähe drei Monate – auch diesmal rechnen selbst die größten Optimisten nicht vor Jänner mit einer neuen Regierung.

Klar: Das britische Mehrheitswahlrecht schafft andere Spielregeln. Dennoch könnten sich die heimischen Kanzlerkandidaten und Möchtegernminister etwas aus London abschauen: Eine klare Vorstellung, welche Pläne nach der Wahl wie verwirklicht werden sollen, beschleunigt den Arbeitsstart der Regierung enorm. Und: Es ist sogar in einem Wahlkampf möglich, über Themen und Konzepte zu reden.

Leider ist davon in Österreich elf Wochen vor der Wahl wenig zu bemerken. Angeblich handelt es sich um eine Schicksalswahl, dafür plätschert die Politdebatte seltsam unfokussiert und reichlich inhaltsfrei dahin. Die Parteien kraftmeiern in Personalfragen und legen sich fest, was sie auf gar keinen Fall wollen: regieren mit FPÖ-Chef Herbert Kickl (sagen alle anderen) oder regieren mit Leonore Gewessler (sagt die ÖVP). Die umgekehrten Positivansagen bleiben Mangelware: Was will welche Partei? Was ist der Plan für den dahinschwächelnden Wirtschaftsstandort? Wie das Konzept gegen die Integrationsprobleme, die immer offenkundiger werden?

Gerade bei diesen beiden Themen gilt eigentlich das britische Motto: „Keine Zeit verlieren“. Denn die Wirtschaft verliert an Wettbewerbsfähigkeit und sackt in jedem Ranking deutlich nach unten ab. Das Motto „Koste es, was es wolle“ kommt teuer, das Prinzip Gießkanne bei Anti-Teuerungs-Maßnahmen und Corona-Hilfen summiert sich. Das Wirtschaftszeugnis fällt schlecht aus: Institutionen wie die OECD kritisieren die giftige Melange aus hohen Schuldenbergen, hohen Steuerquoten (vor allem auf Arbeit) und fehlenden Reformen (etwa bei Pensionen). Das Resultat zeigt eindeutig: Die Wirtschaft steckt hartnäckig in der Rezession, Klein- und Mittelbetriebe sind jetzt sogar pessimistischer als während der Schockzeit der Corona-Lockdowns, die Inflation bleibt zu hoch. Österreich sucht händeringend Fachkräfte und ist gleichzeitig Teilzeiteuropameister.

All die Problemfelder machen deutlich: Wenn die exportorientierte Volkswirtschaft Österreich ihren Wohlstand halten und absichern will, braucht es kluge Strategien. Sie sind bisher Fehlanzeige. Stattdessen geißeln Industrievertreter die SPÖ-Reichensteuer-Pläne, die SPÖ gibt Schwarz-Grün die Schuld, die Gewerkschaft wettert gegen Regierung und EU. Das hilft niemandem weiter, schon gar nicht dem Wirtschaftsstandort. Und eigentlich ist für derartige Politikmätzchen keine Zeit.

Nur mit gegenseitigen Schuldzuweisungen wird man nicht regieren können. Und Herbert-Kickl-Verhindern ist als Koalitions-Programm zu wenig.

Beim Integrationsdilemma passiert dieselbe Nichtdebatte. Die Herausforderungen sind unübersehbar: Im Integrationsbericht wird vorgerechnet, dass zu wenige Migranten den Weg in die Berufstätigkeit schaffen. In Wien können satte 40 Prozent der Schulkinder wegen mangelnder Deutschkenntnisse gar nicht beurteilt werden, Lehrkräfte stöhnen. In Wiener Parks eskalieren Bandenkriege. Die Verteilung von Flüchtlingen funktioniert nicht, es dominiert peinliches Asylwerber-Hin-und-Her-Geschubse: In dramatischen 102.200 Fällen haben sich Bundesländer (Ausnahme: Wien) vor der Verantwortung gedrückt und die Übernahme von Asylwerbern abgelehnt – trotz vereinbarter Quoten. Noch Fragen, warum es dringend Integrationskonzepte bräuchte?

Löbliche inhaltliche Initiativen wie „Mehr Grips“, eine Gruppe verschiedenster Experten, schlagen Konzepte wie ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr vor. Doch von der Politik kommt außer Schuldzuweisungen wenig: Die ÖVP tadelt das SPÖ-regierte Wien, die SPÖ die ÖVP-Integrationsministerin, die Verantwortung wird munter weitergereicht. Lösungsideen fehlen, Integrationsprobleme bleiben ungelöst.

Wenn eine Regierung aus ÖVP und SPÖ (und einer dritten Partei), mit der manche Parteigranden liebäugeln, nach der Wahl Sinn machen soll, dann muss sie große Baustellen anpacken. Dafür würde es nicht schaden, ein paar inhaltliche Konzepte in den Wahlkampf einzustreuen. Denn nur mit gegenseitigen Schuldzuweisungen wird man nicht regieren können. Und Kickl-Verhindern ist als Koalitionsprogramm zu wenig.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin