Faust aufs Auge
Als Kind dachte ich, das Bildungsbürgertum müsste an der Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie stehen. „Bildungsbürgerinnentum“ dachte ich nicht, aber ich dachte auch oder eigentlich vor allem an gebildete Bürgerinnen, wenn ich an gesellschaftliche Hierarchien dachte, weil sie meine Role Models waren. Eine gebildete Bürgerin wollte ich werden. Ich dachte, darauf würde es ankommen: viel lesen und gelesen zu haben, daheim zu sein in der Kunst und in der Musik, andere Sprachen zu sprechen, politisch interessiert zu sein. Ich glaubte an den Aufstieg durch Bildung und dachte, wenn alle aufgestiegen wären in den Himmel der Literatur, der Malerei, der Orchesterkonzerte und der Kammermusik (andere Musikformen kamen erst später), dann würden alle friedlich zusammenleben, in schönen Wohnungen mit riesigen Bücherwänden.
Dass die Muße der Bildungsbürgerinnen zusammenhing mit der Arbeit von Frauen, die nicht zum Lesen kamen, weil sie die schönen Wohnungen der Bildungsbürgerinnen putzen mussten, wusste ich durchaus – und auch, dass das Erreichen gerechterer Verhältnisse samt schönen Wohnungen etwas mit Politik zu tun hatte, denn ich war als Kind oft stumme Zeugin (das war die Kinderrolle damals) heftiger Debatten unter Erwachsenen, in denen der Glaube an quasi naturgegebene Privilegien (und einem daraus resultierenden Ewigkeitsanspruch der Privilegierten auf ihre Sonderstellung) mit einem beharrlichen Glauben an gleiche Rechte und die mögliche Durchsetzung gleicher Chancen zusammenprallte. Ich war Team gleiche Chancen, das von meiner Mutter repräsentiert wurde, erstens aus kindlicher Solidarität, aber auch, weil das die Hoffnung war, die meine Mutter durch einen wenig privilegierten Alltag trug und mich mit ihr.
Erst später ging mir auf, dass nicht die Kunstsinnigen und Lateinkundigen, die mit den vielen Büchern und den erlesenen Plattensammlungen den Ton angeben, sondern die mit dem meisten Geld und den protzigen Villen, und dass Geschäftssinn den Kunstsinn, aber auch hochkarätiges akademisches Wissen schlägt.
Ich weiß mich jedoch in einem Boot mit den Sozialreformern der Zwischenkriegszeit, die, selber überwiegend mit den Segnungen bürgerlicher und bildungsaffiner Elternhäuser aufgewachsen, ebenfalls an die Erlösung durch Bildung glaubten, mit der sie die Unterprivilegierten aus dem Elend der Unwissenheit und Unterdrückung befreien würden. Hat ja eine Zeit lang auch ganz gut funktioniert, bis der Faschismus, mit tüchtiger Hilfe der Großindustrie, bis der Rassenwahn, die perverse, brutale Absage an Gleichheit und Geschwisterlichkeit, den naiven Romantiker:innen und ihrer Gefolgschaft zeigten, dass erstens Profitinteressen über allem anderen stehen und dass sich zweitens Kunstsinnigkeit auf das Erschreckendste mit Unmenschlichkeit vereinbaren lässt.
Wie es scheint, habe ich aber meine frühe Überzeugung von der zumindest moralischen Überlegenheit eines humanistischen Weltbildes noch immer nicht aufgegeben, sonst wäre ich nicht so entsetzt über das, was gerade abgeht.
Diesen Triumph von Lügen, Gewalt und Uneinsichtigkeit, mit dem wir gerade konfrontiert werden, habe ich nicht erwartet. Jeder Tag ein neuer Schrecken – allerdings nicht von allen als Schrecken empfunden. Und das ist das besonders Erschreckende daran. Wir sind von meiner Kindheitsutopie einer humanistisch gebildeten, sozial gerechten Gesellschaft weit entfernt, die Verlierer:innen sind zahlreich, und der Frust der Abgehängten ist teilweise nachvollziehbar. Und das wirklich Verstörende ist: Die Frustrierten streben nicht nach sozialer Gerechtigkeit, sondern nach mehr Ungerechtigkeit. Sie huldigen speichelleckerisch den Superprivilegierten und ansonsten dem Grundsatz: Mir geht’s erst richtig gut, wenn’s dir schlecht geht. Kotzbrocken first!
Die Redewendung, etwas passe „wie die Faust aufs Auge“, bedeutete ursprünglich: passt ganz und gar nicht. Heute wird sie verwendet, um totale Übereinstimmung auszudrücken: könnte nicht besser passen. Darin liegt das ganze Elend eines offensichtlichen Wertewandels.