Der System-Beweis
Wir leben in einer Aufmerksamkeitsökonomie, und da gilt: „Von nichts eine Ahnung, zu allem eine Meinung.“ Früher konnte man damit nur Politiker und Journalisten ärgern, heute fast jede und jeden. Die Gleichberechtigung hat diesbezüglich ihr Werk getan. Seit es Social-Media-Kanäle gibt, haben alle eine Meinung zu haben, und wer auch eine Ahnung hat, darf bald nicht mehr mitspielen, weil er als Spielverderber gilt. Es ist sozial ungerecht, Leute, die Unsinn erzählen, darauf hinzuweisen. Unfair.
Doch es ist nicht alles nur schlecht. Es gibt schon auch Sachen, bei denen sich relativ wenig geändert hat in den vergangenen Jahrzehnten. Nicht einmal die Digitalisierung konnte daran was ändern. Wo die Meinung regiert und die Ahnung fehlt, steckt immer ein System dahinter. Das finden viele junge Wähler auch, weshalb sie gern die gleichen extremen Parteien wählen, die schon von ihren Großeltern gewählt wurden, weil die sich auch „vom System“ schlecht behandelt fühlten. Du selbst bist unschuldig. Das war das System.
Unter System versteht man schon lange nicht mehr das, was die alten Griechen damit verbanden: eine klare Ordnung der Dinge im Ganzen. System, das ist immer Verschwörung.
„Das System“ war einer der Lieblingsbegriffe der Alt-68er, die sich ja selber weitgehend für Linke gehalten haben (was immer sie dazu veranlasst hat, bleibt im Dunkeln). Meistens kamen sie aus besserem Hause und konnten damit den Umstand, ein bissl was geerbt zu haben, durch geschicktes gesellschaftskritisches Ballspiel ein wenig antäuschen. Schon deutlich länger nutzen Leute, die sich nicht nur für Rechtsaußen halten, sondern es auch sind, den Systembegriff. In Deutschland wurden die Parteien der Weimarer Republik etwa, mit Ausnahme der eigenen Nazi-Partei versteht sich, als „System-Parteien“ bezeichnet, und der verstorbene Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider, dem so viele so sehr nacheifern, hat die Parteienmitte in Österreich als „Altparteien“ bezeichnet, ein Hinweis darauf, dass sich die ganz rechts immer als sehr revolutionär verstanden haben. Und ihre scheinbaren Gegensätze auf der anderen Seite des Hufeisens sehen ebenfalls in demokratischen Parteien und deren Organisationen ein System nach dem anderen – ein kapitalistisches, neoliberales, imperialistisches und so weiter. Das System halt.
Unter System versteht man schon lange nicht mehr das, was die alten Griechen damit verbanden: eine klare Ordnung der Dinge im Ganzen. System, das ist immer Verschwörung. Und Verschwörungen sind die Sachen, die man nicht versteht. Mathematik, Technik, Wirtschaft, Raumfahrt und Energiewesen mindestens, aber das sind jetzt nur so willkürlich ausgewählte Begriffe.
Wenn man etwas nicht erklären kann, weil man keine Ahnung hat und außerdem auch zu faul ist, um sich das nötige Wissen anzueignen, kommt das „System“ gerade recht.
Wir lernen: Das ist praktisch. Wenn man nämlich etwas nicht erklären kann, weil man keine Ahnung hat und außerdem auch zu faul ist, um sich das nötige Wissen anzueignen, kommt das „System“ gerade recht. Es ist eine Art Antibiotikum gegen Aufklärung und nüchterne Analyse. Und praktisch, wenn man sich ungern kümmert und Kümmerer braucht, natürlich auch politisch.
Demokratie lebt aber von aktiver Mitwirkung, doch da schaut es düster aus, denn: „Was soll ich schon machen?“ Damit ist alles gesagt: Das System ist die Nachhut des guten alten Schicksals, auf das sich alle berufen, die ihm nicht entfliehen wollen.
Deshalb ist es wichtig, den Leuten, die vom System reden, konkrete Fragen entgegenzusetzen: Was und wen meinst du genau? Welche Zusammenhänge glaubst du erkannt zu haben? Und wo hast du das her? Deshalb sind Quellen, Beweise, Nachweise so wichtig. Beweise sind die letzte verbliebene Säule der Vernunft, des Rechts und der Demokratie. Fragt danach.
Der schlaue Soziologe Georg Vobruba, der in Leipzig lehrte und aus Wien stammt, hat sich vor Jahren mal mit mir über diese Systemfragen unterhalten. Wenn eine Studentin oder ein Student, so erzählte er mir, in einer Vorlesung oder einem Seminar vom „System“ geredet habe, dann habe er freundlich darum ersucht, „das System doch das nächste Mal mitzunehmen, ‚damit wir uns ein wenig unterhalten können‘“. Schade, dass das nie geklappt hat.