Kolumne

Echte Empathie

Mir doch egal – das war lange eine tragfähige Lösung für den reichen Westen. Das ist vorbei. Jetzt sind wir dran.

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„Manchmal, wann i so lieg, hör i de Rettung vorbeifahrn … tatüü … dann denk i ma nur: Karl, du bist’s net …“

Fast 64 Jahre sind vergangen, seit Helmut Qualtinger die von Carl Merz und ihm so unsterblich gemachte Rolle im ORF zum ersten Mal der – empörten – Öffentlichkeit präsentierte. Was war das für ein Aufreger – tatüü, tataa!

Und hat sich daran was geändert?

Es gibt Leute, die sofort sagen: Ja, natürlich! Wir haben mit diesem schadenfreudigen Opportunisten nichts zu tun. Und haben sie nicht recht? An jeder Volksschule wird den Kindern schon das Wort Empathie so beigebracht, dass sie es später, im Berufs- und Privatleben, bei jeder Gelegenheit passend nutzen können. Wenn die Rettung vorbeifährt, dann denkt man sich nicht: Karl, du bist’s net – sondern fragt sich bang, wie es der oder dem Armen gerade geht, der da so schnell wie möglich ins Krankenhaus gebracht werden muss. Mit der Empathie ist es nämlich heute wie mit den Smartphones: So was hat jeder.

Das ist wie mit der Solidarität. Denn nichts halten die Menschen bekanntlich schwerer aus, als wenn jemand in eine Notlage gerät. Da muss man helfen. Helfen ist das Schönste! Stimmt’s?

Wäre die wohlständige Gesellschaft so toll, wie sie ständig von sich behauptet, niemand könnte das eben Beschriebene als Zynismus interpretieren.

Einmal im Jahr ein bissl Licht ins Dunkel und 20 Euro für die SOS-Kinderdörfer sind nett, es geht aber um was anderes, um was Grundsätzliches: „Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist“, wie es in Bertolt Brechts grandiosem Gedicht „An die Nachgeborenen“ heißt. Das ist was anderes als ein wenig Ablasshandel. Und es ist was ganz anderes als dieses aufgesetzte, künstliche, wortreiche, aber meist wirkungsfreie Mitgefühl, mit dem sich heute jeder schmückt – ein kulturell-soziales Accessoire wie ein Handtascherl oder neue Turnschuhe.

Hinter dem dünnen Lack der falschen Empathie sind die Leute vor allen Dingen ein wenig schadenfroh und erleichtert, dass es sie nicht trifft. Die Schadenfreude, behaupten zumindest Schimpansenforscher, sei was Typisches für Affen. Sie finden es lustig, wenn andere vom Baum fallen. Vielleicht geht es ihnen wie Menschen, die umso mehr Freude am Leid anderer haben, als sie sich selber leidtun und für Opfer der Umstände halten. Recht geschieht ihm oder ihr!, ruft es in ihnen – ganz gleich, welches Unrecht anderen widerfährt. Diese Schadenfreude ist für das Funktionieren unserer Gesellschaft sehr wichtig. Denn solange es immer jemanden gibt, dem es noch schlechter geht, fühlen wir uns nicht so mies, wie wir uns eigentlich fühlen sollten, damit sich an der Lage etwas ändert. Das ist der pure Herr Karl – männlich, weiblich, divers, versteht sich.

In die andere Richtung, gegenüber all jenen, denen es besser geht, gibt es ja immer noch den guten alten Neid, weil jemand schöner, reicher, begabter ist, ganz gleich, wie gering der Unterschied dabei zum eigenen Selbstbild auch ausfallen möchte. Zwischen diesen beiden Extremen hängt die neutrale Existenz: Den einen geht’s dreckig, „Karl, du bist’s net“, den anderen nehmen wir was weg oder reden sie so lange schlecht, bis sie es auch sind. Dann können wir uns, weil wir gute Menschen sind, versteht sich, wieder voller Empathie um sie kümmern. Helfen ist ja das Schönste.

Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist, überwindet dieses Affendenken. Das nennt man Vernunft. Die taucht als Gesetz auf, als Regel, als Norm, als Aufgabe der Neutralität, wenn die auch widerwärtigen Tyrannen gilt, und der Unterstützung derer, die dieser Unterstützung bedürfen, ganz gleich, was es kostet. Immer als tätige Hilfe. Gerne auch ohne große Geste und Worte. Das ist weniger eine Frage des Geldes und der ungestörten Handelsbeziehungen zu Weltfriedensstörern in Ost und West, sondern des Charakters und Verstandes. Mitgefühl fängt dort an, wo Selbsttäuschung aufhört.

„Karl, du bist’s net“ war früher. Jetzt sind wir dran.

Dabei wünsche ich viel Glück und Verstand.

Wolf  Lotter

Wolf Lotter

ist Autor und Journalist und schreibt einmal monatlich eine Kolumne für profil, wo er von 1993 bis 1998 Redakteur war.