Kolumne

Mein Freund Algo

Menschen vermenscheln alles. Deshalb ist unser Verhältnis zur Technik ein bisschen gestört.

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Im Jahr 1950 kam der Film „Mein Freund Harvey“ in die Kinos. Der große Hollywoodstar James Stewart spielte darin einen freundlichen Trinker mit einem ausgeprägten Dachschaden. Er sprach an Bars und sonst wo, wenn er „einen Kleinen gelüpft hatte“, mit seinem unsichtbaren Freund Harvey. Harvey war so groß wie ein Mensch, sah aber aus wie ein weißes Kaninchen.

Einige Jahre zuvor hatte der aus Österreich stammende amerikanische Psychologe Fritz Heider mit seiner ebenfalls vor den Nazis geflüchteten Kollegin Marianne Simmel ein interessantes Experiment vollzogen. Mittels Trickfilm bewegten sie ein großes und ein kleines Dreieck, ein Quadrat und einige Linien. Wer immer diese 1944 entstandene Simulation sah, erkannte darin ein Drama, bei dem das große Dreieck die kleineren Objekte tyrannisierte, bis diese erfolgreich flüchten konnten. 
Tatsächlich hatten die Leute nur sich bewegende geometrische Formen gesehen. Von Drama keine Spur. Nur: Wir können nicht anders. So wie sein Freund Harvey für den fidelen Trinker Jimmy Stewart tatsächlich existiert, sehen wir alles durch eine dicke menschliche Brille. Das ist nicht nur bei Haustieren so, die selbstverständlich (und nachvollziehbar) wie Familienangehörige (und ebenso oft nachvollziehbar: besser) behandelt werden. 

Autos und Lokomotiven haben Namen, auch Rasenroboter und Staubsauger – umso zuverlässiger, wenn sie auch noch mechanische Geräusche erzeugen. Doch das ist noch nicht alles. Der Heider-Simmel-Effekt wirkt längst auch auf Dinge, die in einer Blackbox verschwunden zu sein scheinen: Computer, Software, Algorithmen. 

Nehmen wir mal den Algorithmus an sich. Dabei handelt es sich um ein nach dem arabischen Mathematiker Al-Chwarizmi, der vor gut 1200 Jahren lebte, benanntes Modell, mit dem Entscheidungsschritte bei der Lösung eines Problems – etwa in der Mathematik und später in der Informatik –  beschrieben werden. Der Algo, wenn man so will, ist also nur ein Programm, das tut, was es soll, und zwar dann, wann das gebraucht wird.

In Zeiten vermeintlicher Wunder der künstlichen Intelligenz und der damit engstens verwobenen hundsmiserablen Grundbildung in Rechnen und Digitalem wird aus dem Algorithmus aber ein Lebewesen, menschengleich.  Es ist eine Art Frankenstein oder ein Golem, der im Auftrag seiner Schöpfer sein Unwesen in den sozialen Netzwerken und bei den Kaufempfehlungen von Online-Shops wie Amazon treibt. Der böse Algo spült Nazis oder Stalinisten in die Timeline oder einfach ganz normale Soziopathen, die unter dem Deckmantel der Anonymität nach Dienstschluss Menschen in den Netzwerken beleidigen, wahrscheinlich, weil sie selber den ganzen Tag von jemand anderem beleidigt wurden, was weiß ich.

Der Algo ist an allem schuld: am falschen Preisvorschlag und am politischen Irrtum, der nur zustande kam, weil er uns reingelegt hat –  dann gehen die Wahlen anders aus, als die eigene Bubble sich das wünscht, oder jemand sagt etwas Garstiges, wo wir uns  auf ein „Volle Zustimmung“ gefreut haben (Smiley). 
Nun ist es bekanntlich so, dass Algorithmen kein Hirn haben und auch keines kriegen. Die Überschätzung oder Fehleinschätzung von Technik ist stets das Ergebnis menschlicher Unbildung. Der Rasenroboter denkt nicht, und es ist ihm egal, ob er Hansi oder Burli gerufen wird. Der Roboter mäht, solange Gras da ist, der Akku voll und sein Programm nicht defekt. 

Wir wissen zu wenig über die Welt, in der wir leben, nicht nur die Schulbildung hinkt weit hinterher. Der weiße Hase Harvey, der Algo, sie alle lenken uns davon ab, was eigentlich zu tun wäre. Wenn wir in allem etwas Menschliches sehen, dann haben wir ja recht, bei geometrischen Formen wie auch eingebildeten Freunden. Es sind reale Menschen, die mit Werkzeugen Schindluder treiben oder ganz vernünftige Dinge tun. Algo, die KI, sie ist immer nur so schlau wie ihre Benutzer. Es macht wenig Sinn, den Schraubenzieher dafür zu verurteilen, dass die Hand, die ihn hält, nichts Gutes im Schilde führt. Unterscheidenkönnen ist eine der wichtigsten Fertigkeiten in dieser Welt. Und wenn es nur  zwischen Herr und Gescherr ist. 

Wer das nicht kann, sieht überall weiße Hasen.

 

Wolf  Lotter

Wolf Lotter

ist Autor und Journalist und schreibt einmal monatlich eine Kolumne für profil, wo er von 1993 bis 1998 Redakteur war.