Kolumne

Kostümwechsel

Als was gehen Sie eigentlich das ganze Jahr so? Und kennen Sie noch irgendwen, der echt ist?

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Den Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen kennt, nun ja, jedes Kind.

Kinder sind unmündig und dürfen nicht wählen, sie dürfen keine größeren Rechtsgeschäfte abschließen und unterliegen der allgemeinen Schulpflicht. Erwachsene dürfen Kredite aufnehmen, auch wenn sie es mit dem Lesen des Kleingedruckten nicht so haben, sie dürfen ihr Kreuz bei jedem machen, der das auch nicht kann und ihnen dann aus „Solidarität“ aus der Patsche hilft, oder weil sie „Inländer“ sind, was offenbar jedes geistige Defizit entschuldigt.

Erwachsene wie Kinder aber dürfen sich verkleiden, an Fasching, Fasnacht, Karneval oder wie es auch immer heißen mag, und sich als jemand ausgeben, der sie gar nicht sind. Die kleine Greta kann sich als Rennfahrerin verkleiden, der kleine Karli als Ernährungswissenschafter, der kleine Andreas als Wirtschaftsexperte.

Aus Buchhaltern werden wilde Piraten, aus Sachbearbeiterinnen Film- oder Rockstars. Der Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen ist, dass die Kinder am Aschermittwoch ihre Kostüme abgelegt haben, weil sie wissen, dass ihre Verkleidung eben nur eine Verkleidung war. Bei den Erwachsenen tritt das nur teilweise ein, sie legen bloß ihre äußere Maske ab. Das glauben Sie nicht? Dann leben Sie – herzlichen Glückwunsch! – in einer stromlosen Hütte am Rande des Waldes oder mittendrin, und der Förster oder Ihre Sozialhelferin liest Ihnen gerade diese Kolumne vor.

Alle anderen können sich nicht rausreden. Die Leute verkleiden, verstellen, verdrehen und inszenieren sich, dass ein ganz normales Kostüm geradezu lächerlich wirkt dagegen. Früher wussten die Leute, dass die Sachen im Fernseher nur Spaß waren – heute sehen sie die Kardashians und glauben, sie sind selber welche. Bei LinkedIn, TikTok und Instagram ist das ganze Jahr Fasching. Die sozialen Netzwerke sind voll mit Leuten, die glauben, dass sie eigentlich wären, was sie nicht sind: berühmt, gescheit, originell und richtungsweisend. Von den Dachschäden, die die zahlreichen Missverständnisse um die sogenannte Aufmerksamkeitsökonomie zwangsläufig mit sich bringen, war hier ja schon oft die Rede. Andy Warhol hat für alle im Zeitalter der elektronischen Medien die Berühmtheit für 15 Minuten prophezeit, was sicher stimmt. Er hat aber vergessen hinzuzufügen, dass in diesen 15 Minuten die Leute derart bleibende Hirnschäden erleiden, dass sie danach für den Rest ihres Lebens glauben, die kurze Bedeutung – der Moment der Außergewöhnlichkeit, des Beachtetwerdens der eigenen Rolle –, sie währe ewig.

Wer genau hinschaut, der sieht es gleich. Überall laufen Leute herum, die sich jeden Morgen fürs Geschäft verkleiden, für die Rolle, die sie dort spielen. Sie erzählen ihren Kollegen und Kunden Sachen, die sie ihren Freunden und Familienangehörigen niemals zumuten würden. Sie glauben auch, was auf ihrer Visitenkarte steht, und auf LinkedIn werden selbst die Inhaber von Ein-Personen-Unternehmen zu ihrem eigenen Chief Executive Officer. Wichtig, wichtig.

Das Oxford-Wörterbuch definiert das im Österreichischen und Bairischen bekannte Wort Adabei („auch dabei“) als „jemand, der überall dabei sein will, sich überall wichtig und zugehörig fühlt“. Vor ein paar Jahren waren das etwa die Gesellschaftsreporter, die davon lebten, dass sie über wirkliche Promis schrieben und dabei so taten, als kenne man einander schon ewig und ungemein gut – Bussi, Bussi. Unter Wirtschafts- und Politikjournalisten war das nicht viel anders. Jeder hatte seine Stammkunden, viele gewichtige Stücke des alten Journalismus waren dementsprechend „auf Augenhöhe“ verfasst, was nichts mit kritischer Fragestellung zu tun hatte, sondern schlicht mit einer Verwechslung der Rollen.

Wie bei katholischen Berührungsreliquien aus dem Mittelalter schien auf wundersame Weise die fachliche, künstlerische und amtliche Autorität eines – sagen wir – Bundesministers beziehungsweise Vorstandsvorsitzenden auf den Reporter überzugehen, und bei Interviews von Physiknobelpreisträgern m/w/d gaben sich die Journos mindestens so wissend wie der Doktorvater der eben frisch Ausgezeichneten. So ist es auch in den sozialen Medien. Der Geist des Promis schießt in die Leute ein, sobald sie dem Promi folgen oder ihn beschimpfen. Nach den Regeln des Faschings und der Reliquie geht das völlig in Ordnung. Solange man die Maske trägt, den lustigen Namen auf der Visitenkarte führen darf und damit so tut, als ob, also verkleidet durchs Leben geht, ist alles bestens. Alles Adabeis, alles Klatschreporter, Augenhöhe-Illusionisten, die glauben, dass sie, weil sie einen Filmstar duzen dürfen im Netz, auch einer wären.

Nichts ist grausamer als die falschen Hoffnungen, die man sich selber macht. Denn für all diese Menschen kommt irgendwann der Aschermittwoch, und dann merken sie, dass ihr Kostüm nur geliehen war – und die Gebühren fällig werden, höher als gedacht. Diese Gesellschaft kommt gerade aus ihrer Dauerkostümierung und steht nun kurz vor diesem Doomsday der Illusionsgesellschaft. Das ist keine schlechte Nachricht, auch wenn sie so klingt: „Wenn die Irrtümer verbraucht sind, sitzt als letzter Gesellschafter uns das Nichts gegenüber“ – wie Bertolt Brecht in seinem Gedicht „Die Nachgeborenen“ schrieb. Das gilt auch für Nichtse, zu denen man so lange gehört, wie man sich im Leben anderer wohler fühlt als im eigenen.

Echtheit gibt es nicht ohne Realitätssinn. Dazu gehört zuallererst, dass man sich selber nüchtern kennt, ganz ohne Kostüm, und sich mag. Dann ist der Fasching vorbei – und das wirkliche Leben kann beginnen. Dabei viel Spaß!

Wolf  Lotter

Wolf Lotter

ist Autor und Journalist und schreibt einmal monatlich eine Kolumne für profil, wo er von 1993 bis 1998 Redakteur war.