Leitartikel

Kraftlose Schicksalswahl um Europa

Die EU braucht einen Erneuerungsschub. Im Wahlkampf dominierten aber Verzwergungs-Wettrennen und Wutproben der Rechten.

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Europa erlebt die merkwürdigste Schicksalswahl aller Zeiten – und Österreich schafft das Kunststück, das EU-weit niedrige Niveau zu unterbieten. Wirkt verheerend, ist es auch. Eigentlich geht es bei den Europawahlen um Entscheidendes: um Krieg und Frieden. Wohlstand und Wirtschaft. Aufstieg und Abstieg. Kurz: um die Zukunft des gemeinsamen Europas, dieser kühnen Idee, über Staatsgrenzen hinweg auf manchmal mühselige, aber erfolgreiche Gemeinsamkeit zu setzen.

„Unser Europa kann sterben“, warnte Frankreichs Emmanuel Macron, der Meister des leidenschaftlichen Pathos, ganz ohne Übertreibung: Dem vereinigten Europa, das stets damit glänzte, sicherer und sozialer zu sein als andere Kontinente, kommt die unübersichtliche Welt gefährlich nahe. Putins Russland bedroht Frieden und Demokratie, quer durch Europa streben rechte Nationalisten, teils eng mit Russland verbunden, an die Macht. Und liefern lautstarke Wutproben ab. Das Ziel: Schwächung oder gar Zerstörung der EU.

Die demokratischen Kräfte wurden der dramatischen Herausforderung nicht gerecht und taumelten kraftlos in die Auseinandersetzung um die Neuordnung Europas. Überzeugende Visionen? Inspirierende Ideen für Weltklasse-Universitäten, Hochleistungsbahnverbindungen oder die Einlösung des Wohlstandsversprechens? Mitreißende Konzepte? Leider Fehlanzeige. Stattdessen machte sich seltsam matte Endzeitstimmung breit, ganz so, als lohne sich der Kampf für eine erneuerte EU kaum.

Dabei ist die Situation ernst. Auf mehreren Ebenen: Die EU, stolze Trägerin des Friedensnobelpreises, steht der geopolitischen Polarisierung hilflos gegenüber und unterstützt die Ukraine bloß halbherzig – gerade genug, damit sie nicht von Russland überrollt wird. Ein bisschen wenig für einen Staat, der hochoffiziell EU-Beitrittskandidat ist. Entschlossene Solidarität schaut anders aus. Gemeinsame Sicherheitspolitik sowieso.

Technologisch wird Europa abgehängt und tappt neuerlich in die berüchtigte Nokia-Falle. Im Jahr 1996 brachte der finnische Mobiltelefonie-Konzern das erste Smartphone auf den Markt, eine Sensation, die dem Tech-Vorreiter über ein Jahrzehnt Dominanz sicherte. Doch die Innovationskraft schwand, Europa zauderte und zögerte. Der Rest ist unrühmliche europäische Technologie-Geschichte. Heute beherrschen die USA und Asien mit den Big Playern Apple, Samsung, Huawei und Xiaomi den Smartphone-Markt. Bei den E-Autos scheint sich der Abstieg zu wiederholen, skurrile Verbrenner-Forever-Shows werden daran nichts ändern. Wirtschafts- und industriepolitisch gerät Europa gegenüber China und den USA ins Hintertreffen, stöhnt unter einer Rezession und steuert schnurstracks auf beinharte Handelskonflikte zu.

Sicherheitspolitisch regiert an den 12.033 Kilometer langen Außengrenzen Flüchtlingschaos und würdeloses Asyl-Geschiebe. Rechte Nationalisten, allen voran Ungarns Viktor Orbán, winken Migranten weiter und lassen Schengen-Regeln genüsslich scheitern. Dennoch kann sich die EU nicht aufraffen, mehr als kümmerliche 0,073 Prozent des gemeinsamen Bruttoinlandsprodukts für Grenzschutz auszugeben, von ausreichend Geldern für Hilfe vor Ort ganz zu schweigen. Dafür fließt unverdrossen ein Drittel des EU-Budgets in Agrarpolitik.

Beim Kampf gegen die Klimakrise, eigentlich das Vorzeigeprojekt der EU-Kommission, verließ Europa auf halbem Weg der Mut. Der Einigungsprozess stockt überhaupt, die Debatte über Erweiterung oder Vertiefung auch.

Der heimische Wahlkampf lieferte im Verzwergungs-Wettrennen unrühmliche Tiefpunkte: Eine Kandidatin will Oberösterreichs Interessen in Brüssel vertreten, eine andere verstrickt sich in Chats, viel mehr Inhalte begaben sich nicht.

Es rächt sich, dass wesentliche Scharniere der EU reichlich angejahrt und für völlig andere Herausforderungen gebaut sind: Die Zollunion stammt aus den 1960er-Jahren, der Binnenmarkt aus den 1980ern, die Währungsunion aus den 1990ern. Mit derartigen Retro-Mechanismen wird Europa neue Problemstellungen nicht bewältigen. Eine Kraftanstrengung für einen Erneuerungsschub wäre dringend notwendig – war im lustlosen Klein-klein-Wahlkampf aber nur mit der Lupe auszumachen.

Löbliche Ausnahmen – in Österreich allen voran die NEOS mit beherztem proeuropäischen Auftreten – machen den trüben Gesamteindruck nicht wett. Der heimische Wahlkampf lieferte im Verzwergungs-Wettrennen unrühmliche Tiefpunkte: Eine Kandidatin will Oberösterreichs Interessen in Brüssel vertreten, eine andere verstrickt sich in Chats, viel mehr Inhalte begaben sich nicht. Da hatten es die Russland-Buddies von der FPÖ leicht, mit Brutalo-Wahlkampf und Rabiat-Parolen gegen „EU-Wahnsinn“ aufzufallen. Wie die anderen rechten Populisten, die mit Slogans wie „Bereit, Italien wieder aufzurichten“ oder „Frankreich kommt zurück“ auf den Spuren von Trumps Nostalgie-Erfolgsmodell „Make America Great Again“ wandelten, beschwor die FPÖ mit „Es reicht“ die Sehnsucht nach der vermeintlich ruhigeren Vergangenheit. Das taugt zwar natürlich nicht als Rezept für die Zukunft, mobilisiert aber in Krisenzeiten Emotionen.

Bei der EU-Wahl, dem Testlauf für die Nationalratswahl, blieben die anderen Parteien taugliche Antworten darauf meist schuldig. Kraftlos, das wird bei der Schicksalswahl im Herbst zu wenig sein.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin