Leitartikel

Kurz-Anklage: Ein heikler Moment

Widersteht die ÖVP der Versuchung, sich auf die Justiz einzuschießen?

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Wird ein ehemaliger Bundeskanzler vor Gericht gestellt, ist das ein heikler Moment für die Demokratie. Zunächst jedoch beweist eine Anklage des (nicht formell, aber realpolitisch) einst mächtigsten Mannes der Republik, dass die Gewaltenteilung funktioniert. Sebastian Kurz‘ Partei, die ÖVP, ist an der Regierung, und dennoch wird die Justiz nicht daran gehindert, ihn strafrechtlich zu verfolgen. Das ist auch in Demokratien keine Selbstverständlichkeit. Verfahren können verschleppt und ausgehebelt werden. In Italien etwa ließ sich der damalige Ministerpräsident Silvio Berlusconi 2008 ein Immunitätsgesetz auf den Leib schneidern, um sich seiner Verfahren zu entledigen. (Es wurde später wieder gekippt.) So traurig es für unser Land ist, dass sich der Ex-Kanzler und ein Teil seines Umfelds verdächtig gemacht haben, Straftaten begangen zu haben, so stolz sollten wir darauf sein, dass die Justiz unbeirrt vorgeht.

Der Vorwurf der Polit-Justiz aus dem Mund eines ehemaligen Bundeskanzlers ist verantwortungslos und eine Attacke auf eine der wichtigsten Säulen der Republik.

Sebastian Kurz sagte in seiner Rücktrittsrede am 2. Dezember 2021, er freue sich auf den Tag, an dem er vor Gericht beweisen könne, „dass die Vorwürfe gegen meine Person schlicht und ergreifend falsch sind“. Am Freitag wiederholte er auf der Kurznachrichtenplattform X (vormals Twitter), dass er „erfreut“ sei. Egal, ob diese Bekundung ehrlich gemeint oder strategisch formuliert ist – diese Anklage ist tatsächlich erfreulich, weil sie der politischen Hygiene in Österreich einen Dienst erweist. Wäre das Verfahren eingestellt worden, hätte dies unter Kurz-Gegnern den Keim einer Verschwörungstheorie gesät.

Jetzt zum heiklen Punkt: Kurz schreibt auf X, die Vorwürfe gegen ihn seien „falsch“. Das ist das gute Recht eines Angeklagten. Problematisch wird es jedoch, wenn nicht nur die Vorwürfe, sondern auch die für das Verfahren verantwortlichen Personen und Institutionen attackiert werden. Das haben Kurz und andere in der ÖVP in der Vergangenheit bereits getan: Die österreichische Justiz werde „leider Gottes missbraucht, um Politik zu machen“, sagte Kurz im März dieses Jahres bei einer Veranstaltung der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, nachdem am Abend zuvor die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) gegen ihn und weitere Beschuldigte ein weiteres Ermittlungsverfahren eingeleitet hatte.

Der Vorwurf der Polit-Justiz aus dem Mund eines ehemaligen Bundeskanzlers ist verantwortungslos und eine Attacke auf eine der wichtigsten Säulen der Republik. In der Diktion noch haarsträubender war der Titel einer Pressekonferenz von Andreas Hanger, dem Fraktionsführer der ÖVP im Ibiza-Untersuchungsausschuss, im Oktober 2021: „Sind die linken Zellen der WKStA am linken Auge blind?“

Darin besteht die größte Gefahr: Dass die ÖVP sich im Jahr vor der Nationalratswahl dazu hinreißen lässt, auf populistische Weise die Justiz zu ihrem Gegner zu machen.

International gibt es für ein solches Vorgehen berüchtigte Vorbilder: Donald Trump, Benjamin Netanjahu, Nicolas Sarkozy, oder der erwähnte Silvio Berlusconi. Die genannten Staats- und Regierungschefs stehen oder standen unter Anklage und versuchten daraus politisches Kapital zu schlagen, indem sie sich als Opfer einer „Hexenjagd“ (Netanjahu, Trump) darstellten, die Richterschaft insgesamt als linke „rote Roben“ verunglimpften (Berlusconi), den zuständigen Richter als „geistesgestört“ (Trump), oder die Justiz warnten, sie werde „für ihre Fehler zahlen müssen“ (Sarkozy).

Schlägt die ÖVP – oder ein Teil von ihr – jetzt diesen Pfad ein? Das wäre ihr Ende als staatstragende Partei, denn er mündet geradewegs in eine der besonders gefährlichen Konsequenzen des Rechtspopulismus: der Untergrabung des Rechtsstaates. Plötzlich gilt die Justiz nicht mehr als unabhängige Instanz, sondern als machtpolitisches Instrument des Gegners, dem man Einhalt gebieten muss. Es ist kein Zufall, dass Trump die kommende Präsidentschaftswahl zu einem Votum auch über die Justiz stilisiert, und dass Netanjahu eine als „Justizreform“ getarnte Entmachtung der Judikative durchführt.

Aber auch die Gegner von Sebastian Kurz tragen eine staatspolitische Verantwortung. Nehmen wir an, der Ex-Kanzler wird freigesprochen. Dann müssen alle, die offen oder insgeheim seine Verurteilung herbeigesehnt hatten, auch dieses Urteil akzeptieren. Bedeutungsschwangere Hinweise auf bloß mangelnde Beweise oder trotz allem starke Indizien wären unehrliches Spiel. Kurz bliebe ein unbescholtener Bürger – vorausgesetzt natürlich, er würde auch in keinem der anderen Verfahren für schuldig befunden. Heißt das, er könnte in die Politik zurückkehren?

Verspürt die ÖVP Nostalgie nach Sebastian „Kann ich ein Bundesland aufhetzen“ Kurz?

Ja. Formell wäre die Reputation des in Unehren abgetretenen Kanzlers wieder hergestellt. Ein Freispruch hat in der einen Richtung ebenso viel Gewicht wie eine Verurteilung in der anderen.

Was bleibt, sind charakterliche und politische Eigenschaften von Kurz, die im Zuge der Ermittlungen zutage getreten sind. Der Drang zur Günstlingswirtschaft, die kaltschnäuzige Machtversessenheit, die Illoyalität gegenüber eigenen Parteifreunden, das krass unterdurchschnittliche Urteilsvermögen in der Wahl seiner „Prätorianer“…

Verspürt die ÖVP dennoch angesichts ihrer ziemlich mäßigen Umfragewerte Nostalgie nach Sebastian „Kann ich ein Bundesland aufhetzen“ Kurz? Es steht ihr frei. Solange sie die Justiz ohne Zurufe ihren Job erledigen lässt.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur