Kurz ist gescheitert. Wo bleibt der Neustart?
Wenn Österreich wieder einmal aus dem Wundern nicht herauskommt, was alles möglich ist, wenn Skandale, Regierungskrisen, Politbeben das Land erzittern lassen, wenn selbst hartgesottene Politprofis hyperventilieren – dann ist es tröstlich, zu wissen, dass zumindest eine Institution der Republik die Ruhe behält und reibungslos funktioniert: das Staatsoberhaupt, Alexander Van der Bellen.
Er verbreitet souveräne Gelassenheit, wenn überall sonst hektische Atemlosigkeit ausbricht. Und schafft sogar das seltene Kunststück, kultiviert-lässigen Humor in seine Krisenreden einzustreuen. Das gelang ihm bei Ibiza-Affäre, Misstrauensantrag und Expertenregierung, das gelang ihm nun beim zweiten Abgang von Sebastian Kurz. Und wieder erschallten quer durchs Land erleichterte Stoßseufzer: „Was für ein Glück, dass nicht Norbert Hofer in der Hofburg sitzt!“
Van der Bellen glänzte in der Krise. Andere leider nicht. Nicht der neue Kanzler Alexander Schallenberg, der die Chance für einen Neustart vergab und sich partout nicht für das Unsittenbild der türkisen Truppe entschuldigen wollte. Nicht die Staatspartei ÖVP, die selbst als Beschuldigte geführt wird, bisher aber keine Anstalten macht, das aufzuarbeiten.
Schon gar nicht Sebastian Kurz: Er ist mit 35 Jahren zweifacher Altkanzler, ein unrühmlicher Weltrekord – zieht es aber vor, sogar als Saubermann außer Dienst lamentierend die verfolgte Unschuld zu geben, der von der bösen Justiz bitteres Unrecht angetan wird. Diese Flucht in die Opferrolle wird nicht reichen, sie ist allzu billig und durchsichtig. Ob Kurz und seine Getreuen gegen das Strafrecht verstoßen haben, ob sie auf der Anklagebank landen oder nicht, ist Angelegenheit der Justiz. Bis zu ihrer Entscheidung gilt die Unschuldsvermutung. Justiz-Bashing hilft niemand, im Gegenteil. Punkt.
Die Affäre um das „System Kurz“ geht aber weit über die strafrechtliche Dimension hinaus, sie hat eine ebenso gravierende politisch-moralische Tangente. „Wer öffentliche Aufgaben wahrnimmt, hat eine Vorbildfunktion, er steigert das Vertrauen in Staat und Politik. Daher ist für politische Funktionsträger ein strenger Maßstab notwendig“, heißt es aus verflixt guten Gründen im Ehrenkodex der ÖVP, den sie sich 2012 verordnete – wohlgemerkt nach Korruptionsvorwürfen.
Erst nach einer langen Schrecksekunde, die über eine Woche dauerte, kam der ÖVP-Ethikrat zum Schluss: Die Kurz-Chats widersprechen dem Verhaltenskodex. Jeder andere Schluss wäre angesichts des primitiven Postenschachers, angesichts des widerwärtigen Tons, angesichts der Unart, die Republik mit der ÖVP zu verwechseln, angesichts des verwerflichen Umgangs mit Steuergeld, von dem die Chats strotzen, ein Leben in einer Parallelwelt.
Allerhöchste Zeit, dass diese Erkenntnis bei der ÖVP sickert. Allerhöchste Zeit, dass sie aus ihrem Schockzustand erwacht und sich den neuen Realitäten stellt: Das System Kurz ist hochkant gescheitert. Und zwar gleich auf mehreren Ebenen: All die Hoffnungen, die Sebastian Kurz mit seinem Versprechen des „neuen Stils“ geweckt hat, sind zerstört, spätestens seit seinem Abstieg vom Erneuerer zum Beschuldigten.
Mehr noch: Kurz trat als mutiger Reformer an – kam aber, von der Pflegereform bis zur Parteienfinanzierung, über wohlformuliertes Reformgerede selten hinaus, real umgesetzt wurde reichlich wenig (unter Türkis-Blau einiges vom Höchstgericht aufgehoben, etwa die neue Mindestsicherung). Denn: Kurz’ Erfolg fußte vor allem auf Personality, Effekthascherei und Rhetorik. Zusammengefasst: Viel Show, viel Blendwerk, wenig Substanz. Nun, nach dem tiefen Fall ihres einstigen Superhelden, steht die ÖVP vor dem Trümmerhaufen des Systems Kurz.
Und hat eine Mammutaufgabe vor sich: Das gängige Vorurteil, dass in der Politik ohnehin nur „lauter Gauner“ sitzen, glaubwürdig zu widerlegen. Das Vertrauen in die Politik, das durch die verheerenden Chats verloren ging, wieder aufzubauen. Nicht zuletzt: Aus dem Sebastian-Kurz-Huldigungsverein wieder eine Volkspartei zu formen.
Nur Letzteres ist ein interner Auftrag an die ÖVP. Bei dem Rest sind auch andere Parteien und nicht zuletzt die Medien gefordert: Es braucht saubere Verhältnisse und Vergabekriterien für die – mit Steuergeld bezahlten – Inserate von Bundes- und Landesregierungen, die käufliche Jubelberichterstattung verunmöglichen. Vorschläge dafür liegen seit Jahren auf dem Tisch – genauso wie für saubere Parteifinanzen, Anti-Korruptions-Pakete und Kontrollrechte, die diesen Namen auch verdienen. Höchste Zeit, sie umzusetzen.
Unabhängig davon, was strafrechtlich bei den schweren Korruptionsvorwürfen herauskommt, schon jetzt steht fest: Österreich braucht einen Neustart. Zeit für Neues – diesmal aber wirklich.