Kolumne

Lack saufen für die Zukunft

Von Ferngesprächs-Pornodownload bis ChatGPT: eine kurze Geschichte meiner persönlichen Technikfolgenabschätzung.

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Ich bin so alt wie das Ende des Vietnamkrieges. Was in meinem nerdigen Leben allerdings auf lange Sicht viel wichtiger war: Ich bin auch so alt wie Microsoft. In meiner Volksschulzeit musste ich nicht nur ab und an mal unter den Tisch klettern, um Nuklearkrieg zu spielen, meine Lehrerin erzählte uns auch in einer Sachkunde-Stunde etwas von „persönlichen Elektronengehirnen“. Ich hatte so eines dann relativ bald auch zu Hause stehen, vor allem, weil meine Eltern korrekt vermuteten, das wäre gut für meinen zukünftigen Arbeitsmarktwert. Ich wechselte in die Unterstufe, die Challenger explodierte, und Tschernobyl verstrahlte halb Europa. Letzteres hielt mich für etwa zwei Jahre von meinem geliebten Spielplatz fern. Dafür saß ich öfter vor der (Zitat Oma) „Gurkn“: dem geliebten 286er-Tower von Herlango. Ich spielte hauptsächlich Adventure Games, aber schon bald wurde mir klar, dass ich ein Modem brauchte. Ich wollte aus der Kindheit in der Provinz ausbrechen, mit Leuten aus der ganzen Welt kommunizieren. So brachte mir das mittelständische Privileg die „Datenfernübertragung“ ins Haus. Da musste eine Maschine einer anderen Maschine per Telefonleitung einen krächzenden Balz-Gesang vorträllern, damit diese sich verbinden konnten, um Bytes auszutauschen. Ja, es war die Zeit, als ich mich noch über E-Mails freute. Und mein erstes Pornobild lud ich aus Deutschland per Ferngespräch herunter. Dauerte etliche Stunden, hatte eine Auflösung von 320 x 200 und einen geringen erotischen Schauwert. Es kostete meine Eltern dennoch 10.000 Schilling Telefongebühr und brachte mir Hausarrest ein: eine erste Lektion in Technikfolgenabschätzung.

Als ich in den späten 1980er-Jahren eine Folge von „Love Boat“ sah, gab es da einen kleinen Handlungsstrang über einen Erfinder, der eine elektrische Schreibmaschine gebaut hatte, die per Spracheingabe gesteuert wurde. Der Nerd hatte dann ein Panscherl mit einer brünetten Dame, und beim Schmusen tippte die Schreibmaschine dann „mmmmm“ mit. Damals dachte ich: Auf das freue ich mich (aufs Diktat bezogen). Und heute ist es tatsächlich Alltäglichkeit.

Ich hatte eigentlich immer ein gutes Gespür dafür, ob eine Technologie, die über mich hereinbrach, auch eine Weiche für die Menschheit stellte.

Die 1990er-Jahre brachten fette Festplatten und Soundblaster, ich stieg vom Fido-Netz auf Internet um, baute meine ersten Homepages, checkte sie auf Mosaic und wurde Teil der Antifa. Die meisten linken „Kollegas“ hielten sich aber von Netz und mobiler Kommunikation fern. Ein befreundeter Punk aus Berlin attestierte mir, ich „hätte wohl Lack gesoffen“. So ein Ding käme ihm nie ins Haus, und ein Handy erst recht nicht. Vier Jahre später organisierte er seine Straight-Edge-Konzerte per Nokia und war Meister in HTML. Ich gebe auch zu, dass ich, als ich 1996 zum ersten Mal meinen Namen per Suchmaschine Altavista suchte – und ein paar dutzend Resultate bekam –, etwas schockiert war. Gleichzeitig war mir aber auch sofort bewusst: Kein Stein bleibt auf dem anderen. Die linke Gegenkultur hatte zu diesem Zeitpunkt viel zu spät das Netz als Gestaltungsraum erkannt und zu lange den WIRED-lesenden Libertären überlassen. Da gab es Typen wie John Perry Barlow, der zwar die „Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace“ veröffentlichte, aber philosophisch die Datenautobahn für Amazon planierte. Wir hätten mehr Wikipedia-Kollektivität gebraucht und weniger hippie-kapitalistische „Californian Ideology“, wie der Medientheoretiker Richard Barbrook das nannte. Ich war nie ein blinder Technikkritiker, aber immer ein Kritiker der schamlosen hegemonialen Verbiegung neuer Werkzeuge. YouTube brachte viel Wahnsinn, aber eben auch kulturell Unglaubliches. Als ich 2007 ein iPhone in Händen hielt, da war mir klar: Das ist buggy Technologie, aber buggy Technologie aus der Zukunft. Wie damit umgehen?

Wir werden ständig mit Möglichkeitsräumen konfrontiert. Es gilt, diese zu analysieren und zu hinterfragen, und Folgen abzuschätzen, ohne sich in reaktionären, zivilisationsfeindlichen Tendenzen (siehe: 5G-Impfchip-Wahnsinn) zu verzetteln.

Letztes Jahr hatte ich wieder einen Moment der Sprachlosigkeit, als ich erstmals ChatGPT ausprobierte. Wie schon zuvor war da dieses Gefühl der Zeitenwende. Und tatsächlich: Das ist schon allein daran zu sehen, dass Länder wie Italien das Tool einfach verbieten wollen und Technikgewinnler wie Elon Musk herumzappeln wie trotzige deutsche Punks der 1990er-Jahre. Fast so, denke ich mir, als würde er sich beim Anblick eines Tsunamis reflexartig eine Badehose anziehen wollen. Cheers! Mit oder ohne Lack!

Johannes  Grenzfurthner

Johannes Grenzfurthner

Johannes Grenzfurthner ist Gründer des Kunst-Kollektivs monochrom und schreibt als Karenzvertretung von Ingrid Brodnig.