Alle Achtung, Papst!
Wenn der katholische Glaube zutrifft (woran ich leider nicht glaube), ist Papst Franziskus derzeit via Fegefeuer auf dem Weg in den Himmel. Wenn zudem das Bild, das der verstorbene Pontifex von seiner Persönlichkeit hinterlassen hat, der Wahrheit entspricht, dann bedeutet ein himmlischer Aufenthaltsort für ihn eine schlichte Kammer in einer kargen Kartause. Das ist ein schöner Gedanke.
Stopp! Erleben wir gerade einen dieser Momente, in denen Liberale, Atheisten und sogar Anti-Klerikale vom Lufthauch allgemeiner Sentimentalität erfasst werden und plötzlich aus emotionalem Opportunismus einem Papst nachweinen, dessen Institution sie voller Überzeugung ablehnen? Oder gibt es vielmehr einen guten Grund dafür, den Papst und seine Kirche gerade jetzt, in einer historisch neuen Weltlage, mit anderen Augen zu betrachten?
Ich behaupte Letzteres. Was ist passiert?
Lange Zeit stand die Kirche in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit für einen obsessiven traditionalistischen Abwehrkampf gegen den gesellschaftlichen Fortschritt – gegen ein Scheidungsrecht, gegen Empfängnisverhütung, gegen die Legalisierung der Abtreibung, gegen die Anerkennung homosexueller Beziehungen – kombiniert mit einem arroganten Wahrheits- und einem oft unbedingten Machtanspruch. Um die Jahrtausendwende wurden dann haarsträubende Fälle von sexuellem Missbrauch innerhalb kirchlicher Institutionen bekannt, und vor allem auch deren systematische Vertuschung, sodass die Kirche selbst in den Augen vieler entsetzter Gläubiger ihr Gütesiegel als moralische Instanz verlor.
Der nächste Papst kann Franziskus' Erbe weiterführen oder verschleudern.
2013 kam Papst Franziskus aus der fernen Peripherie in Argentinien in den Vatikan und interpretierte die Positionen der Kirche neu. Er widerrief die althergebrachten Regeln nicht – er konnte oder wollte das nicht –, aber er ersetzte Sturheit und Rechthaberei durch Fragen und einen suchenden Reformprozess. Umgekehrt jedoch ließ er an einer anderen Glaubenswahrheit keinen Zweifel: dass die Kirche unverbrüchlich an der Seite der Schwachen, Entrechteten und Ausgegrenzten stehen müsse. Franziskus reiste zu den Flüchtlingen auf der italienischen Insel Lampedusa, forderte in Papua-Neuguinea ein gerechteres globales Wirtschaftssystem und wusch Häftlingen die Füße.
Der Einsatz für die Schwachen ist wahrlich keine Erfindung von Franziskus, doch er machte aus dieser Maxime den Kern seines Redens und Handelns als Oberhaupt der Kirche. Im aktuellen politischen Kontext bedeutet dies einen rebellischen Akt gegen die Politik der Verachtung und des Generalverdachts gegenüber Migranten, repräsentiert von US-Präsident Donald Trump und Gleichgesinnten auf der ganzen Welt. Die Regierung der Supermacht USA entzieht illegalen Migranten ihre verfassungsgemäß verankerten Rechte und lässt sie ohne Verfahren in Gefängnisse in El Salvador stecken; sie schafft aus Desinteresse an der Armutsbekämpfung de facto ihre Entwicklungshilfe-Agentur USAID ab; sie beurteilt alle Maßnahmen ausschließlich unter dem Gesichtspunkt, ob sie der eigenen Nation unmittelbar nützen.
In diesem Klima ist ein Papst, dessen Gefolgschaft 1,4 Milliarden Menschen zählt, ein beachtlicher Gegenpol.
Klingt das naiv? Nun, Harald Vilimsky, FPÖ-Abgeordneter im EU-Parlament und Trump-Fan, sah sich nach Franziskus’ Tod zu halsbrecherischem Opportunismus genötigt. Er lobte in einem Posting auf „X“ den bekennenden Migranten-Beschützer Franziskus posthum als „herausragende moralische Instanz unserer Zeit“. So etwas nennt man wohl ein Wunder.
Ein Pontifex ist kein Oppositionsführer, aber er kann den Gläubigen – und manchmal auch den Nichtgläubigen – ins Gewissen reden. Franziskus hinterlässt der katholischen Kirche ein großes Erbe – die wiederentdeckte Mission, für die Schwachen da zu sein, zumal, wenn diese auch noch unbeliebt sind.
Der nächste Papst kann dieses Erbe weiterführen oder verschleudern. Tut er Letzteres, wird Franziskus (für alle, die daran glauben) im Himmel Höllenqualen leiden.