Ein Plädoyer für das Fragezeichen
Im Jahr 2019 brannte in Paris die Kirche von Notre Dame ab. Bis heute sind die Gründe dafür unklar. Es gibt Theorien zu brennenden Zigaretten, es gibt keine Belege. Allerdings auch keine Beweise oder Hinweise dafür, dass es sich um Brandstiftung handeln könnte. Und obwohl man nichts wusste, verbreitete sich rasend schnell die Nachricht: Das waren Islamisten! Diese Behauptung kann kein faktisches Substrat aufweisen, dennoch hängen dieser Theorie nach wie vor viele Menschen an.
Warum stoßen Verschwörungstheorien auf so viel Gegenliebe? Warum haben es Fake News manchmal so leicht? Vermutlich, weil man gerne glauben möchte, was ins eigene Weltbild passt. Weil man sich besonders fühlen kann, wenn man vermeintlich etwas zu wissen glaubt, was andere nicht wissen – oder angeblich nicht erkennen können. Und vor allem, weil es nicht in der Psychologie der Menschen liegt, mit Fragezeichen zu leben. Sie sind manchmal nur sehr schwer auszuhalten. Sie geben keine Orientierung. Sie schüren Unsicherheit. Jede noch so falsche Antwort hilft (vermeintlich), einzuordnen. Wie sehr sich Menschen nach Führung, Ansagen und Antworten sehnen, belegen etliche Studien.
Verständlicherweise versucht die Politik dem Rechnung zu zollen: Sie versucht Antworten zu liefern – selbst dann, wenn die Fragen manchmal einfach nicht zu beantworten sind. Wann haben Sie das letzte Mal von einem Politiker gehört: „Ich weiß es nicht.“ Oder: „Ich weiß es noch nicht.“ Oder: „Ich muss mir das zuerst noch genauer anschauen.“? Wer so etwas sagt, darf nicht auf Wertschätzung für so viel Ehrlichkeit hoffen, sondern muss mit Autoritätsverlust rechnen.
Wie gefährlich es aber ist, wenn man große Fragezeichen einfach wegnegiert, hat die Coronakrise eindrücklich gezeigt. Selbstverständlich hatte man viel nicht gewusst, als diese Pandemie über die Welt hereinbrach. Aber anstatt das zuzugeben, schob man Experten vor, die dann angebliche Fakten präsentierten, auf denen dann die Entscheidung der Politik angeblich fußten. Dabei wurde völlig ausgeblendet: Wissenschaft ist ein Prozess, Erkenntnisse können und sollen sich weiterentwickeln. Das wurde der Bevölkerung nicht erklärt. Schlimmer noch: Wer das sagte, was politisch gerade gewünscht war, wurde zum hochgelobten Experten. Und manchmal war das, was dieselben Personen später erklärten, plötzlich nur mehr eine Meinung – dann, als es politisch nicht mehr genehm war. Man muss ehrlich sein: Das hat insgesamt nicht zu mehr Vertrauen sondern zu schmerzlichem Verlust von eben diesem geführt. Das betraf Wissenschaft, Politik und die darüber berichtenden Medien gleichermaßen. Dieser Vertrauensverlust hat ein Einfallstor für allerlei Schwachsinn und Verschwörungstheorien geöffnet, das seither weit offen steht.
Auf europäischer Ebene, aber auch in Österreich, wird viel darüber diskutiert, wie man die zunehmend grassierenden Fake News eindämmen kann. Sie werden gezielt als Waffen eingesetzt, um Meinungen zu bilden. Demokratien zu perforieren und Gesellschaften zu spalten. Angesichts der 2024 anstehenden, wegweisenden Wahlen in den USA, für das EU-Parlament und auch für den Nationalrat in Österreich treibt das glühenden Demokraten Angstschweißperlen auf die Stirn. Sie sehen die Gefahren, die in dem schier überbordenden, manipulativen Schwachsinn geborgen liegen. Man versucht dem beizukommen, indem Regularien für Algorithmen gefunden werden, ohne den Innovationsfortschritt zu bremsen – der Spagat ist bisher nicht geschafft.
Der Zugang ist auch ungenügend. Es ist nicht das „Internet“ allein daran schuld, dass all diese Dinge auf fruchtbaren Boden fallen. Es hat damit zu tun, dass wir nicht mehr darin geübt sind, abzuwarten, bis sich die Nebel gelichtet haben. Dass wir keine Geduld mehr haben, zu warten, bis man mehr weiß. Wir, Sender (Medien und Politik) wie Empfänger (Bevölkerung) geben und nehmen uns zu wenig Zeit dafür. Es hat auch damit zu tun, dass wir es nur schwer aushalten, wenn sich erste Erkenntnisse nach mehrmaligem Hinterfragen in ein „Ja, aber …“ verwandeln. Aber was genau ist daran so tragisch? Wer eine kritische und darum wehrhafte Gesellschaft möchte, muss diesen Werten wieder einen höheren Stellenwert einräumen. Das Fragezeichen muss wieder mehr geehrt werden. Oder wie schon Tocotronic sagten: Im Zweifel für den Zweifel.