Ode an den Hausverstand
Die künstliche Intelligenz Chat GPT trainiert Tag und Nacht. Die ständige Schinderei ist notwendig, nur so kann sie sich weiterentwickeln und Wissen aneignen. Sie wird ständig mit Best-Practice- und Worst-Case-Beispielen konfrontiert, um so etwas wie einen ethischen Grundkodex destillieren zu können. Es ist für ihre Entwickler essenziell, der Software einzubläuen, wo der Unterschied zwischen Gut und Böse liegt, damit sie nicht auf Abwege gerät oder missbraucht werden kann. Und freilich geht es auch um Fokussierung auf die wichtigsten und aktuellsten Themen – sie werden vorrangig akribisch studiert und erlernt, damit möglichst viele Menschen einen Nutzen davon haben.
Und während die ganze Welt hin- und hergerissen auf die Lernfähigkeit der künstlichen Intelligenz schaut, sollte nicht auf das Training der natürlichen Intelligenz vergessen werden. Weil auch sie verkümmert, wenn man sie nicht permanent erinnert, was zählt, wo rote Linien verlaufen – und warum man sich einmal darauf geeinigt hat, sie nicht zu überschreiten. Man muss sie zwingen, über den Tellerrand zu schauen, um Sichtweisen auf ein gutes Fundament zu stellen. Und selbstverständlich ist es notwendig, den Kompass permanent nachzujustieren. Nur so kann das Ziel ohne unnötige Schlangenlinien rasch und effizient erreicht werden.
Die heimische Politik scheint mit ihrem Training schleißig geworden zu sein – vielleicht liegt das an der Hitze. Anders ist nicht erklärbar, warum man sich seit Wochen in beinahe peinlich absurden Debatten ergeht. Der eine spricht davon, Volkskanzler werden zu wollen, und behauptet zu wissen, was das „Volk“ will – ziemlich völkisch insgesamt. Der andere will ihm das Narrativ klauen und redet von „Unsere Leute“ – wer auch immer das sein soll. Dazwischen gibt es ein paar hochemotionale Schlagabtausche zum Thema Gendersternchen und deren Sinnhaftigkeit. Die Nächste streitet mit Inbrunst darum, was heutzutage als „normal“ bezeichnet werden darf. Der Oberchef spricht schließlich ein Machtwort und mahnt Zurückhaltung in der Ausdrucksweise ein. Und bekommt als Antwort vom wichtigsten Mann im Staat ausgerichtet, dass er es eh okay findet, „wenn sich jemand entschließt, vegan zu leben. Aber es muss auch okay sein, wenn andere gerne Schnitzel essen.“ Aha. Wäre das also auch geklärt.
Freilich, flache Identitätsdebatten eignen sich hervorragend zur Stimmungsmache – immerhin kann jeder sofort mitreden. Es braucht dazu nichts weiter als eine Meinung – und die hat ja Hochkonjunktur. Jeder hat eine, und das wird auch gern auf allen Kanälen zur Schau gestellt. Und obwohl die Eintrittshürde zum Mitreden wirklich denkbar niedrig ist, darf trotzdem bezweifelt werden, dass man damit die breite Masse erreicht. Oder anders formuliert: Keine einzige Umfrage würde widerspiegeln, dass derartige Diskussionen irgendjemanden wirklich interessieren. Unter den Top-10-Themen findet sich jedenfalls nichts davon.
Dafür gibt es eine Latte an echten Problemen, derer man sich annehmen müsste – immerhin wird man vom wählenden Bürger dafür bezahlt. Eine kleine Erinnerung, worum es sich beispielsweise handeln könnte: Wohnen ist unleistbar geworden – sowohl für jene, die mieten, aber auch für die, die Eigentum begründen wollen. Wer wo wie lebt, ist insgesamt ein Thema geworden: Die ländlichen Strukturen zersiedeln sich, Innenstädte sterben – dafür geht die Flächenversiegelung munter voran. Ach ja, Klimawandel: Wo bleiben die großen Würfe? Dann wäre da freilich die Inflation, die knabbert den Wohlstand an. Das könnte man vielleicht mit Förderung an den richtigen Stellen lösen, nur: Wir haben in diesem Land einen Förder-Dschungel mit wenig Treffsicherheit, dafür viel Überförderung. Hereingeholt wird dieses Geld etwa mit (zu) hohen Abgaben auf Arbeit – eigentlich sind sich alle einig, dass man hier an Schrauben drehen sollte, aber wer tut es?
Noch ein paar Themen: Die Bevölkerung überaltert, die (zu wenigen) Jungen können und wollen das am Arbeitsmarkt nicht kompensieren. Das resultiert auch in einer drohenden Pensionslücke, dazu greift der Fachkräftemangel um sich: Besonders betroffen sind der medizinische Bereich und die Pflege. Wo bleibt die Lösung? Die Anti-Zuwanderungsstimmung wird es eher nicht sein.
Eine weitere große Baustelle: das Bildungssystem. Die Lehrergewerkschaft schrie erst vergangene Woche auf, dass man nicht wisse, wie man im Herbst die Klassen bestücken soll. Freilich ist das eine Entwicklung, die es nicht erst seit gestern gibt. Kinderbetreuung in der Freizeit, Kindergartenplätze, Kleinkinderbetreuung, Gewalt an Frauen, noch immer hohe Abhängigkeit von russischem Gas und und und und und.
Weil die Nationalratswahl schon nächstes Jahr ansteht, gibt es Strategiesitzungen um Strategiesitzungen, in denen diskutiert wird, wie man Wähler gewinnen kann. Der Hausverstand würde sagen: Kümmert euch einfach um das, was sie wirklich beschäftigt – und nicht um Nebenschauplätze.