Superheld Babler?
Sie galt früher als ungeschriebene Grundregel der Politik: Die 100-Tage-Schonfrist für Neulinge im Amt. Ihr Schöpfer ist Franklin D. Roosevelt, jener legendäre Präsident der USA, der mitten in der verheerenden Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren ins Weiße Haus einzog, mit Hochdruck sein Wirtschafts- und Sozialprogramm „New Deal“ erarbeitete und dafür bei Politkonkurrenz, Medien und Öffentlichkeit um 100 Tage Schonfrist bat. Erst danach sollte sein „New Deal“ beurteilt werden. Kein ganz verkehrter Wunsch, eine gewisse Einarbeitungszeit in neue Jobs schadet selten, fundiertes Nachdenken bei grundlegenden Projekten schon gar nicht. Dennoch erscheint die Roosevelt-Regel mittlerweile wie eine schrullige Angewohnheit aus einer längst vergangenen und sehr gemächlichen Zeit.
Der Vergleich macht sicher: Würde die 100-Tage-Schonfrist noch gelten, dann könnte etwa der Kurs des neuen SPÖ-Chefs Andreas Babler überhaupt erst Mitte September beurteilt werden. Klingt absurd, ist es auch. Derartige Langsamkeit wäre heute unvorstellbar.
Noch Fragen, wie rasant sich das Tempo der Politik beschleunigt hat? Wie schnell mittlerweile vernichtend geurteilt oder begeistert geklatscht wird, wie rasch Daumen-rauf-Daumen-runter, Likes, Dislikes und andere Haltungsnoten vergeben werden? Social Media lassen die Aufregungsspirale immer rascher und immer aufgeheizter rotieren – und produzieren nachgerade hysterische Polit-Debatten. Wie sich, exemplarisch wie aus dem Polit-Lehrbuch, an den ersten 20 Tagen von Andreas Babler als SPÖ-Chef besichtigen lässt.
Fundiert-kritische Auseinandersetzung mit dem neuen roten Kurs gab es wenig, stattdessen: überzogen-plumpe Attacken von Mitbewerbern (Paradebeispiel: der dümmliche Nordkorea-Vergleich der ÖVP) – und ebenso atemlos-platte Jubelchöre aus den Reihen der SPÖ. Es gibt einen veritablen Fan-Sektor von Babler-Ultras, gut vertreten auch auf Twitter, der vorbehaltlos jede Aussage oder Handlung des neuen SPÖ-Vorsitzenden nicht weniger als fantastisch findet. Und Babler zum Superstar hochjazzt und fast wie einen Erlöser verklärt. Getreu dem simplen Schwarz-Weiß-Motto: Babler ist der neue Held! Wer nicht klatscht, ist ein Verräter!
Für nüchterne Zwischentöne oder faktenbasierte Beurteilung ist in dieser Fan-Tümelei kaum Platz. Derartige Heldenverehrung wirkt, wie jeder Personenkult, nicht nur etwas befremdlich, sondern erhöht auch die Fallhöhe beträchtlich. Denn derart überhöhte Ansprüche kann niemand erfüllen, mehr noch: Wenn die Erwartungen so übertrieben sind, wird das Scheitern wahrscheinlicher. Jeder Fehler wird kritisch beäugt, jede Ungereimtheit wiegt umso schwerer. Schon jetzt kursieren Listen mit „Bablers Pannen“, von Falschberechnungen von Unfalltoten bis zum EU-Armee-Zickzack-Kurs. Der Gegenwind ist beträchtlich – und lässt die Fans umso unerbittlicher werden. Ein Effekt, der sich gegenseitig bestärkt.
Österreich, das der Altmeister der Politikforschung, Fritz Plasser, einst luzide als „Boulevarddemokratie“ bezeichnet hat, hat ein seltsames Faible, Politiker zu Megastars hochzujazzen. Das ist kein erstmaliger Andreas-Babler-Effekt, dieses merkwürdige Phänomen fand in der jüngeren Innenpolitik-Geschichte mehrmals statt: Das passierte (kurz) bei Ex-Kanzler Christian Kern, das passierte (länger) bei Ex-Kanzler Sebastian Kurz. Beiden begegnete ihre emotionalisierte Anhängerschaft mit glühender Bewunderung, bei beiden wurden selbst wohlbegründete Zweifel am Superheldenstatus als politische Gegnerschaft abgetan und beiseite gewischt, bei beiden war sachliche Pro-Kontra-Argumentation kaum möglich – der Fan-Sektor applaudierte immer frenetisch, die Anhänger des anderen Teams pfiffen ebenso unerbittlich aus. Und bei beiden erfolgte (aus überaus unterschiedlichen Gründen und in unterschiedlichem Tempo) auf den kometenhaften Aufstieg der abgrundtiefe Fall.
Auf die Gefahr hin, dass es altmodisch klingt: Wie wäre es einmal mit einem etwas weniger aufgeregten Urteil – ganz ohne Superlativ? Das könnte bei Babler als Zwischenbilanz etwa so lauten: Er führt Österreich natürlich nicht schnurstracks in den finsteren Kryptokommunismus – ist aber genauso wenig der gloriose Instant-Wunderheiler für Probleme aller Art. Sondern: Babler setzt konturierte inhaltliche Akzente, versucht der müde gewordenen Sozialdemokratie neues Leben einzuhauchen und erzeugt bei manchen so etwas wie Begeisterung. Manche seiner Ideen sind unausgegoren, für viele Pläne hapert es an konkreten Umsetzungskonzepten, etliche Vorschläge sind selbst SPÖ-intern umstritten – eine gewisse Diskursverschiebung (etwa über Arbeitszeitverkürzung oder Vermögenssteuern) scheint gestartet. Kurz: Ob Babler als SPÖ-Chef reüssieren kann oder nicht, für dieses Urteil ist es noch zu früh.
Eines zeichnet sich aber bereits jetzt ab: Der neue Kurs der SPÖ könnte auch anderen Parteien die Gelegenheit bieten, ihr Profil zu schärfen – etwa der ÖVP, ihre etwas verschüttgegangene Kompetenz als Wirtschaftspartei zu beleben. Und den Diskurs über das beste inhaltliche Argument zu suchen.
Das wäre auch wesentlich spannender als simple Fan-Tümelei – oder blanke Ablehnung.