Leitartikel

Amerika will träumen

Achtung, dieser Leitartikel enthält eine dunkle Vorahnung!

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An diesem Dienstag, dem 5. November, könnte zum ersten Mal in der Geschichte der USA eine Frau, eine schwarze Frau, das höchste Amt im Staate erringen: Kamala Harris. Ihr Wahlsieg würde einen symbolischen Triumph der Gleichberechtigung über Rassismus und Patriarchat bedeuten und – nicht zuletzt, schließlich ist es eine Persönlichkeitswahl – einen Triumph von Harris über den Mann, der sie als „dumm und faul“ bezeichnete: Donald Trump.

Ein solcher Glücksmoment ist möglich, und er wäre auch auf anderen Ebenen der Politik eine Erleichterung: für die Ukraine, für das Pariser Klimaabkommen, für die NATO, die Europäische Union …

Aber der 5. November könnte mit einem ganz anderen Ausgang in die Geschichte eingehen. An diesem Tag will Donald Trump die USA zum dritten Mal seit 2016 zum wichtigsten Schauplatz der neu-rechten Revolution machen, von der seit Jahren die gesamte westliche Welt erfasst ist. Der anfängliche Verdacht, die Amerikanerinnen und Amerikaner wüssten nicht, worauf sie sich einlassen, ist längst widerlegt. Trump wurde 2016 bei seinem Sieg gegen Hillary Clinton von 63 Millionen Menschen gewählt, 2020 waren es trotz Niederlage gegen Joe Biden 74 Millionen, und jetzt werden es laut Umfragen kaum weniger sein.

Sehr, sehr viele US-Bürger wollen Donald Trump neuerlich an der Macht sehen, auch nach acht Jahren in der Politik und trotz unzähliger Skandale, Anklagen, Verurteilungen und jeder Menge blankem Unsinn, den der Mann regelmäßig von sich gibt. Warum ist das so? Oder, wie profil dies in der Titelgeschichte dieser Ausgabe formuliert: „Verstehen Sie Amerika?“

Ich will dem nachvollziehbaren Unverständnis mit einer Gegenfrage begegnen: Worin besteht das große Versprechen von Kamala Harris? Nein, ich meine nicht eine Liste von Vorschlägen aus allen möglichen Bereichen, sondern einen großen Gedanken, von dem sich 150 Millionen Menschen tief drin angesprochen fühlen können.

Ich fürchte, so einen gibt es nicht. Das einzige Thema, das Harris im Wahlkampf auf emotional aufrüttelnde Weise auf den Punkt gebracht hat, ist das Recht auf Abtreibung. Aber das ist keine übergreifende Idee für die ganze Nation.

Trump hat ein solches Versprechen: „Make America Great Again.“ In diesem simplen Slogan, mit dem Trump den nunmehr dritten Wahlkampf bestritten hat, sind enorm viele Beweggründe enthalten, die ein politisches Lebensgefühl erzeugen. Der Wunsch nach Stärke, die Rückbesinnung auf alte, in Verruf geratene Vorstellungen, das Bekenntnis zur Rücksichtslosigkeit gegenüber Widersachern, der Trotz gegenüber moralisierenden Einwänden …

Trump verknüpft seine Parole mit seinen zahllosen charakterlichen Defiziten. Aber der Schwur, Amerika wieder großartig zu machen, überstrahlt offenbar immer noch alle Unsäglichkeiten.

Der letzte Demokrat, der die Nation mit einem großen Versprechen überzeugte, war Barack Obama. Das Buch, mit dem er 2006 30 Wochen lang in den Bestsellerlisten blieb, trug den Titel „Hoffnung wagen – Gedanken zur Rückbesinnung auf den American Dream“. Obama lud seine Parole mit Chancengerechtigkeit und Fairness auf und mit der Selbstermächtigung „Yes we can“. Trump die seine mit Ausländerfeindlichkeit und Autoritarismus. Aber beide vermitteln der Nation, dass sie auf dem Weg zu etwas Größerem ist. Amerika will träumen!

Was Amerika jetzt noch retten kann, ist die schiere Vernunft. Die Einsicht, dass ein Präsident, der vorschlägt, Demonstranten „in die Knie zu schießen“ oder mit dem Militär gegen „innere Feinde“ vorzugehen, eine Gefahr ist.

„Vernunft“ ist als Slogan leider nicht gerade elektrisierend. Joe Biden wird vom amerikanischen Starjournalisten Bob Woodward in seinem jüngsten Buch „Krieg“ als „Beispiel beständiger und zielgerichteter Führung“ genannt. Und dennoch zweifelt niemand daran, dass Biden die Wahl verloren hätte.

Meine dunkle Vorahnung für den kommenden Dienstag ist nicht zu verbergen. Sollte aber doch Harris gewinnen, möge dies der Beginn einer Ära eines politischen Lebensgefühls sein, für das man sich nicht schämen muss. Meinetwegen Vernunft.

Donald Trump wäre dann Geschichte.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur