Leitartikel

Keine Bewegung!

Ralf Rangnick ist für profil Mensch des Jahres, und wer glaubt, Sport sei Nebensache, wird die Hauptsache nie kapieren.

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Kann ein Fußballtrainer Mensch des Jahres sein? Die profil-Redaktion sagt in diesem Heft: Ja. Und ich ahne bereits vor Veröffentlichung dieser Entscheidung Stirnrunzeln, Murren und leisen wie lauten Spott voraus.

Zu Unrecht. Sport wird auf zwei Ebenen unterschätzt: Erstens, was die Fähigkeiten betrifft, über die erfolgreiche Sportler verfügen, und zweitens, welche Bedeutung der Sport für die Gesellschaft hat.

Zum ersten Punkt eine wahre Geschichte: Tony Blair, ehemaliger britischer Premierminister, hatte ein Problem mit seinem brillanten, aber gegen Blair opponierenden Finanzminister Gordon Brown. Er wandte sich deshalb an jemanden, dessen Kompetenz er schätzte: an Sir Alex Ferguson, damals Trainer des Fußballvereins Manchester United. Ohne Browns Namen zu erwähnen, fragte Blair: „Was würdest du tun, wenn dein bester Spieler nicht das tut, was du von ihm willst?“ Ferguson: „In dem Moment, in dem du die Kontrolle zu verlieren drohst, musst du ihn loswerden.“

Die Tatsache, dass ein Premierminister den Trainer eines Top-Klubs um Rat fragt, sollte niemanden überraschen. Weltklasseathleten zu einer Mannschaft zu formen, erfordert Management-Qualitäten auf High-End-Niveau.

Der zweite Punkt, die Bedeutung des Sports für die Gesellschaft, war noch wichtiger für unsere Entscheidung, Rangnick zu küren.

Die Klage darüber, wie gespalten unsere Gesellschaft ist, kann einem langsam zu den Ohren raushängen, aber dummerweise ist sie ebenso wahr wie beunruhigend. Was eint uns noch? Der Glaube an die Institutionen? Wankt. Die Identität? Ein Schlachtfeld. Die Kultur? Eine Kampfzone. Die Menschenrechte? Umstritten. Die Medien? Kein Kommentar.

Vielleicht ist Sport derzeit die einzige Sache, die Einigkeit herstellen kann; das letzte Feld, auf dem die Begeisterung ungeteilt ist und das Bekenntnis dazu von niemandem als Kriegserklärung aufgefasst wird. Auf die Ideologien der österreichischen Parteien heruntergebrochen: Sport fördert den Leistungsgedanken (ÖVP, Neos), das ehrenamtliche Engagement bei Vereinen (ÖVP), die soziale Gleichheit (SPÖ, Grüne, KPÖ), Integration (SPÖ, Grüne, KPÖ), den Patriotismus (FPÖ), die Nähe zur Natur und die individuelle Gesundheit (alle). Möglicherweise würden sich sogar alle Parteien bei fast jedem der Begriffe als Co-Sponsor melden.

Es tut gut zu wissen, dass es da etwas gibt, das man toll finden kann, ohne damit jemand anderen zu provozieren. Provokation ist etwas Wunderschönes, aber wenn alles zur Provokation gerät, macht sie keinen Spaß mehr. Und es klingt schrecklich pathetisch, aber Sport kann tatsächlich alle Unterschiede vergessen machen. Nirgendwo lässt sich Integration jeglicher Art besser bestaunen als in Sportvereinen. Wer schon einmal bei einem Meisterschaftsspiel der Wiener Stadtliga zugesehen hat, weiß, dass Migranten (mindestens) halbe Mannschaften stellen, bloß werden sie dort nicht als Migranten wahrgenommen, sondern als Innenverteidiger, rechter Flügel, Sechser oder dergleichen.

Nein, das ist keine naiv-romantische Verklärung. Niemand außer ein paar Hardcore-Rechtsextremisten, die ihre sportlichen Erfahrungen ausschließlich in Wehrsportgruppen gemacht haben, würde auf die Idee kommen, Teams wegen deren ethnischer Zusammensetzung zu kritisieren. Jeder Verein ist froh, wenn er Mitglieder hat, die starke Leistungen bringen, und es ist ihm so was von egal, wo sie oder deren Vorfahren herkommen.

Sport fördert Tugenden, die jede Gesellschaft braucht und die man sonst nirgendwo lernt: Siegeswillen in Kombination mit Respekt für den Gegner; Angriffslust, limitiert durch Fairness; Mut diesseits der Selbstüberschätzung … profil-Autor Gerald Gossmann schreibt im großen Ralf-Rangnick-Porträt (ab Seite 56) von „unösterreichischen Eigenschaften“, die der Deutsche dem Nationalteam eingeimpft hat.

Wir brauchen mehr davon. Mehr Mut, mehr Tempo, mehr Bewegung. Aus vielen Gründen. Mehr als die Hälfte der österreichischen Bevölkerung ist übergewichtig. Die Idee einer „täglichen Turnstunde“ ist älter als ich, aber mein Sohn kriegt seinen Sportlehrer nur einmal pro Woche zu Gesicht.

Der nächste Bundeskanzler sollte sich nicht scheuen, bei Gelegenheit Ralf Rangnick um Rat zu fragen.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur