Leitartikel

Liebe ÖVP-Mitglieder!

Sie müssen sagen, was sie wollen. Und was Sie nicht wollen. Jetzt.

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Eines vorweg: Ich bin als Journalist naturgemäß Mitglied keiner Partei, aber ich empfinde Respekt dafür, wenn sich jemand auf diese Weise politisch engagiert. Das bringt jedoch auch Verantwortung mit sich. Jetzt ist der Moment, sie wahrzunehmen.

Warum sind Sie der ÖVP beigetreten?

Wahrscheinlich sind Sie ein eher traditionsbewusster Mensch, eine Unternehmerin, ein Landwirt, eine Beamtin, ein Lehrer, und überzeugt davon, dass die ÖVP Ihre Interessen am besten vertritt. Sie sind eher christlich geprägt und schätzen die Nähe der Partei zur katholischen Kirche und deren Werte. Sie hegen Skepsis gegenüber einer allzu dominanten Rolle des Staates und gegenüber gesellschaftspolitischen Experimenten. Die Familie erachten Sie als die wichtigste Institution der Gesellschaft, ebenso wie Ihre eigene Familie Ihnen alles bedeutet.

Vor allem aber lehnen Sie Radikalismus, Revolutionsbestrebungen oder gar Extremismus ab. Sie glauben daran, dass moderate Politik Gesellschaft und Staat am besten voranbringt – und zwar in allen Bereichen, ob Migration, Wirtschaft, Pensionen …

All das beschreibt eine bürgerliche, konservative Haltung, die ungefähr so alt ist wie die Idee des modernen Staates selbst, und die, ob man sie nun teilt oder nicht, fraglos legitim ist.

Vor der vergangenen Nationalratswahl haben Sie bestimmt in Ihrem Umfeld dafür geworben, die ÖVP zu wählen. Sie haben argumentiert, weshalb Ihre Partei der Garant dafür sei, dass Österreich besonnen regiert werde; nicht nach links abdrifte mit neuen Steuern; nicht vor lauter Klimaschutz die Wettbewerbsfähigkeit vergesse; und, schließlich, oder vor allem: nicht der FPÖ und dem „Sicherheitsrisiko“ Herbert Kickl, einem „Rechtsextremen“ in die Hände falle. So formulierten es die Spitzen Ihrer Partei.

Plötzlich steht Ihre Partei, die ÖVP, knapp davor, entgegen ihren vor Kurzem noch öffentlich beteuerten Grundsätzen zu handeln und eine Regierung unter der Führung von Herbert Kickl zu ermöglichen. Ihr Parteichef Karl Nehammer ist deshalb zurückgetreten. Aber reicht Ihnen das? Kann Ihre Partei ein so grundlegendes Versprechen aufgeben, indem sie lediglich einen Mann an der Spitze austauscht?

Sie sind Teil dieser Partei, und als Kollektiv machen Sie die ÖVP aus. Niemand hat Sie, die Parteimitglieder, bisher nach Ihrer Meinung gefragt. Es sollte für eine demokratische Partei eine Selbstverständlichkeit sein, in einem so gravierenden Fall einer politischen Richtungsänderung die Mitglieder zu befragen. Es ist international durchaus üblich, Koalitionsverträge den Parteimitgliedern zur Abstimmung vorzulegen. Die SPD ließ ihre Mitglieder 2018 über den Koalitionsvertrag entscheiden, 2021 machten die deutschen Grünen dasselbe. Auch die Neos hatten dies für den Fall eines erfolgreichen Abschlusses der Koalitionsgespräche angekündigt.

Zur Stunde ist nicht klar, ob es zu einem Regierungsübereinkommen zwischen der FPÖ und der ÖVP kommt. Dennoch sollten Sie spätestens jetzt für einen solchen Fall eine Abstimmung verlangen. Könnten Sie es sich als selbstbewusste Mitglieder einer Partei, die die Freiheit und Selbstbestimmtheit des Individuums betont, verzeihen, dies nicht getan zu haben? Auch wenn die FPÖ-ÖVP-Verhandlungen in diesen Tagen scheitern sollten, wird die Frage nach der Legitimität einer Koalition mit der FPÖ unter Herbert Kickl spätestens nach einer Neuwahl wieder relevant.

Sie machen diese Partei aus, Sie müssen gehört werden. Es ist Ihre Verantwortung, dies einzufordern.

Am Ende liegt es an Ihnen, zu entscheiden, ob es Ihrer bürgerlichen Einstellung entspricht, Herbert Kickl zum Amt des Bundeskanzlers zu verhelfen. Passt dessen Furor gegen das „System“ zur bürgerlichen Tugend eines überlegten Vorgehens? Passt dessen Anti-EU-Politik zur Idee der über Jahrzehnte von Konservativen mitaufgebauten Europäischen Union? Ist die rechtsextreme Vokabel „Remigration“ und das dahinterstehende Konzept von Massendeportationen mit Ihrer christlich-sozialen Gesinnung vereinbar?

Bitte sagen Sie Ihre Meinung. Laut. Jetzt.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur