Leitartikel

Papa, wer war die „EU“?

Der Ärger über Migration wird missbraucht, um das gemeinsame Europa zu zerstören. Kann das gelingen?

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Die Aufregung war ebenso heftig wie rasch abflauend. Nein, Deutschland wird seine Grenzen nicht schließen und Flüchtlingsmassen nach Österreich abschieben. Die deutsche Bundesregierung möchte vielmehr an den Grenzen rascher feststellen, ob ein Migrant bereits in einem anderen EU-Land registriert ist und deshalb dorthin rückgeführt werden soll. Bei Fluchtgefahr kann über solche Personen auch die Haft verhängt werden.

Alles nicht so dramatisch, doch in diesem Superwahljahr wird jede Migrationsdebatte sofort in die Sphäre von Hysterie und Endzeitstimmung katapultiert.

Warum ist das so?

Die Migration schafft Probleme – Überlastung der Schulen, Wohnungsnot, Kosten, Kriminalität und in einzelnen Fällen auch Terror. Die Bevölkerung will diese realen und emotionalen Belastungen nicht länger ertragen und verlangt nach Lösungen, und zwar rasch. All das ist bekannt. Weniger bekannt ist: Längst wurde ein Plan beschlossen, was zu tun ist. Das Migrations- und Asylpaket, von den EU-Innenministern im Mai dieses Jahres angenommen, sieht zum Beispiel Verfahren an den Außengrenzen der EU vor, um dort festzustellen, ob Asylanträge unbegründet oder unzulässig sind.

Zuständig für die Umsetzung sind jedoch nicht die dauernd gescholtenen EU-Institutionen, sondern die Mitgliedstaaten, in deren Kompetenz der Grenzschutz fällt. Wenn es also zu langsam vorangeht, muss man seinen Zorn in erster Linie auf die nationalen Regierungen und Parlamente richten.

Migrationswellen waren immer Belastungsproben für Gesellschaften. Als Ende des 19. Jahrhunderts Millionen von Italienern in die USA einwanderten, galten sie dort als nicht integrierbare Ethnie: Sie lebten in Parallelgesellschaften („Little Italy“), gehörten einer unerwünschten Religion an (Katholizismus) und waren angeblich überdurchschnittlich kriminell (Mafia). Es dauerte Jahrzehnte, ehe Italo-Amerikaner zu einem selbstverständlichen Teil der US-Gesellschaft wurden. Auf dem Weg dorthin geschahen üble Verbrechen. Katholische Kirchen wurden überfallen, der rassistische Ku- Klux-Klan, für den Italiener nicht als Weiße galten, genoss verstärkten Zulauf.

Ein solcher Zivilisationsverlust gegenüber Migranten muss jetzt verhindert werden. Voraussetzung dafür ist, dass die Bevölkerung zur Überzeugung gelangt, dass das Asylsystem funktioniert. Dafür braucht es Rückübernahmeabkommen mit Transit- und Herkunftsländern sowie Aufnahmelager an den Außengrenzen. Wenn die Zahl der Abschiebungen und der Migranten, die an der Außengrenze zurückgewiesen werden, weil sie keinen Asylgrund glaubhaft machen können, deutlich steigt, wird sich das Vertrauen einstellen.

Das gemeinsame Europa würde zu einer Spielwiese sogenannter Patrioten und deren jeweiliger Volksaufwallungen.

Robert Treichler

Aber Achtung, es gibt auch einen anderen Plan! Er beruht darauf, den zivilisatorischen Fortschritt, Verfolgten Asyl zu gewähren, über Bord zu werfen und alle Institutionen, die dies derzeit garantieren, zu zerstören. Für dieses Konzept existiert ein reales Beispiel.

Ungarn unter Ministerpräsident Viktor Orbán wurde im Jahr 2020 vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) verurteilt, weil es das Recht auf Asyl praktisch abgeschafft hatte. Migranten wurden auf unmenschliche Weise in „Transitzonen“ gehalten, wo es keine Versorgung gab und nur einen Ausweg: zurück über die Grenze nach Serbien. Ungarn ignorierte das Urteil und wurde im Juni dieses Jahres zu einer Strafe von 200 Millionen Euro verurteilt. Orbán weigert sich zu zahlen, der Betrag erhöht sich pro Tag um eine Million Euro.

Orbán ist ein Störfall unter den Staats- und Regierungschefs der EU – noch. Tatsächlich ist er der Held aller rechtspopulistischen Anwärter auf mögliche Regierungsverantwortung, darunter natürlich FPÖ-Chef Herbert Kickl. Im EU-Parlament sind sie in der Fraktion „Patrioten für Europa“ versammelt, und der Name könnte falscher nicht sein, denn wie man an dem Beispiel sieht, achtet Orbán weder europäische Gesetze noch Urteile des Europäischen Gerichtshofes. Der Ärger der Leute über die Migration dient ihm als Hebel, um lange gehegte antieuropäische Absichten in die Tat umzusetzen.

Orbán allein wird es nicht gelingen, die Institutionen der EU zu zerstören. EuGH und Europäische Kommission verfügen über Hebel, die 200 Millionen (und mehr) einzutreiben, und Ungarn ist wirtschaftlich auf Geld aus der EU angewiesen. Doch wenn ein paar von Orbáns Verbündeten es in das Amt des Regierungschefs schaffen und damit in den Europäischen Rat, wird das EU-Recht bald ignoriert werden, wo immer es nationalen Wünschen in die Quere kommt. Das gemeinsame Europa wird dann zu einer Spielwiese sogenannter Patrioten und deren jeweiliger Volksaufwallungen.

Daran sollte man denken, wenn man selbst nahe daran ist, die staatsbürgerliche Geduld zu verlieren, weil vieles an der Migration unendlich ärgerlich und manches beängstigend ist. Die Europäische Union ist eine Gemeinschaft des Rechts und der unverrückbaren Grundwerte, und ist sie das nicht mehr, dann war sie einmal die Europäische Union.

Die Titelfrage dieses Leitartikels werde ich hoffentlich nie beantworten müssen.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur