Mal kurz nicht empören
Sollen wir uns jetzt schon wieder aufregen? Vier Jahre lang, tagaus, tagein, über jede idiotische Wortmeldung, über jeden abstrusen Vorschlag?
Lieber nicht. Aufregung, Empörung und Entsetzen sind gesunde, menschliche (und politische) Aufwallungen, aber wie alle emotionalen und kognitiven Regungen nutzen sie sich ab. Dauernd verknallt sein, dauernd wütend oder dauernd perplex geht auch nicht.
Üben wir uns ein wenig in der österreichischen Heimatkunst des Schau-ma-amoi. Schauen wir einmal, wie lange es dauert, bis der reichste Mann und der mächtigste Mann der Welt draufkommen, dass sie doch nicht die besten Freunde der Welt sind (Tipp: zwei Monate ab Angelobung).
Es gibt Wichtigeres als die kleinen und die großen Provokationen. Es ereignet sich gerade nichts weniger als ein Umsturz der Glaubenssätze, die der westlichen Welt und ihrer Politik zugrunde liegen. Drei Beispiele:
1. Der Westen glaubte bisher daran, dass der Freihandel allen Staaten zugutekommt. Ein entsprechendes Regelwerk sollte dafür sorgen, dass unfaire Praktiken verhindert werden. So erhöhte sich das weltweite Wirtschaftswachstum. Die Jahrzehnte der Globalisierung waren der beste Beweis für die Richtigkeit der Theorie.
Doch mit dem Vorantreiben von Freihandel und Globalisierung gewinnt man keine Wahlen mehr. Wohl aber mit wüsten Anwürfen gegenüber Freihandelsabkommen oder besser noch mit der Ankündigung, Zölle einzuführen und Handelsbarrieren zu errichten. Der Wahlsieger des 5. November 2024 ist der selbst ernannte „Tariff Man“ (Mann der Zölle). Das mag alle Volkswirtschaften in Mitleidenschaft ziehen, aber das Versprechen, dass dies die nationale Eigenständigkeit stärke und die Restriktionen jedenfalls den anderen Handelspartnern noch mehr schaden würden, schlägt alle Einwände.
2. Der Westen glaubte bisher daran, dass universelle Werte überall auf der Welt verteidigt werden müssen, notfalls mit Waffengewalt. Zweifel an der Effektivität der Institution des „Weltpolizisten“ USA sind alt – und berechtigt. Zu oft gingen die Interventionen schief oder basierten von vornherein auf fragwürdigen Annahmen. Doch das Prinzip, dass der Westen an der Seite der Demokratien steht und diesen zu Hilfe kommt, wenn er kann, galt als unumstößlich.
Auch dieser Grundsatz kommt unter die Räder. Die erste Frage im Fall eines solchen Konflikts lautet jetzt nicht „Wie können wir einer bedrohten Demokratie zu Hilfe eilen?“, sondern: „Was ist unser Nutzen einer solchen Intervention – und wie hoch sind die Kosten?“ Autoritäre Herrscher sind dabei Verhandlungspartner wie Demokraten auch.
Die westliche Gesellschaft, ihre Grundsätze, ihre Vibes verändern sich.
3. Der Westen glaubte an die Freiheit des Individuums und daran, dass jeder Mensch ein nützlicher Staatsbürger werden kann. Als der US-Präsident Ronald Reagan, ein Konservativer, 1986 ein Gesetz zur Straffreiheit für illegale Migranten erließ, begründete er das mit der folgenden Erklärung: „Ich glaube an die Idee einer Amnestie für diejenigen, die hier ihre Wurzeln geschlagen und ihr Leben eingerichtet haben, auch wenn sie irgendwann in der Vergangenheit illegal ins Land gekommen sein mögen.“ Aus diesen Worten sprach nicht Naivität, sondern Pragmatismus. Die illegalen Einwanderer waren meist gezwungen, in unfairen Dienstverhältnissen zu arbeiten. Die Legalisierung ermöglichte ihnen, normale Jobs zu bekommen und Steuern zahlende Staatsbürger zu werden.
Heute gilt nur noch unnachgiebige Härte als vertretbarer Grundsatz. Die integrative Kraft der Gesellschaft wird in Abrede gestellt, Einwanderer werden genuin als „nicht integrierbar“ abgestempelt. Dies dient gegenüber den Wählern als Ausweis für klare Kante. „Workplace enforcement“ verspricht die neue US-Regierung – Verhaftungen von illegalen Einwanderern am Arbeitsplatz.
Die westliche Gesellschaft, ihre Grundsätze, ihre Vibes verändern sich. Der Glauben an die Verbreitung universeller Werte und des Fortschritts mittels Kooperation wird verlacht. Verhasst sind Institutionen wie die Welthandelsorganisation, die Weltgesundheitsorganisation, internationale Regelwerke und Gerichte, Multilateralismus in allen Formen. Stattdessen: America first, Ungarn zuerst, Österreich zuerst … Jeder will sich ganz vorn in der Reihe anstellen.
Ob jemandem auffällt, wo der Haken an diesem Konzept ist? Schauen wir einmal.