Martin Staudinger: Angstmacher

Die rechtsextremen Identitären können sich freuen: Österreichs Bundesregierung verleiht ihrer Gräuelpropaganda gegen den UN-Migrationspakt Legitimität.

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Keine Ahnung, was und ab welcher Uhrzeit der hippe Rechtsextremist von heute trinkt, aber eines darf man zumindest vermuten: dass bei Martin Sellner, dem Chef der Identitären Bewegung, am Mittwoch vergangener Woche irgendwelche Korken geknallt haben – möglicherweise schon vor dem Mittagessen.

Am Mittwoch früh berichtete die „Presse“ nämlich, dass Österreich in Erwägung ziehe, den sogenannten „Migrationspakt“ der Vereinten Nationen nicht zu unterzeichnen. Wenig später meldete Bundeskanzler Sebastian Kurz, flankiert von Vizekanzler Heinz-Christian Strache, beim Pressefoyer nach dem Ministerrat ernsthafte Vorbehalte gegen das Papier an: weil davon, insinuierte der Regierungschef, eine Gefahr für die Souveränität des Landes ausgehe.

Das Abkommen listet eine Reihe von Maßnahmen auf, die dazu gedacht sind, die weltweite Mobilität in geordnete Bahnen zu lenken. Was derzeit eine gefühlte Bedrohung für die einen und ein hochriskantes Wagnis für die anderen ist, soll zum Vorteil für alle werden, so die Intention.

Als der Beschluss, einen derartigen Pakt auszuarbeiten, Anfang 2016 gefasst wurde, waren die in der UN-Vollversammlung vertretenen Staaten einhellig dafür. Vernünftigerweise: Das Vorhaben, ein allgemein akzeptiertes Leitbild für den Umgang mit Migration zu formulieren, ist ja absolut sinnvoll (es sei denn, man hegt die Hoffnung, dass sie als Phänomen verschwindet, wenn man nur lange und laut genug seine Abscheu dagegen äußert. Aber das fällt doch eher in den Bereich des magischen Denkens).

Im April 2017 begannen die Verhandlungen, im heurigen Juli wurde die Endversion der Vereinbarung präsentiert: Viel „Deklarationsprosa“ („Die Presse“), der das Bemühen anzumerken ist, allen gerecht zu werden – nicht nur potenziellen Migranten, sondern auch jenen Ländern, die besonders begehrte Destinationen für Auswanderer sind.

Die grundsätzliche Haltung, die aus dem Pakt spricht, lässt sich in etwa so zusammenfassen: Migration hat es immer gegeben, und es wird sie immer geben. Sie bringt eine Vielzahl von Problemen und Belastungen, im Großen und Ganzen aber mehr Vor- als Nachteile mit sich; vorausgesetzt, die Beteiligten auf beiden Seiten sind um Fairness bemüht.

Wollen die Vereinten Nationen die 'Volkssouveränität abschaffen'? Unsinn!

Während die USA unter Präsident Donald Trump bereits frühzeitig aus den Beratungen über das Abkommen ausgestiegen waren und aus Ungarn (sowie zuletzt auch Polen) nicht ganz unerwartet Widerstand kam, nahm im Wiener Regierungsviertel die längste Zeit niemand Notiz von den 34 Seiten, die der „Globale Pakt für sichere, geordnete und geregelte Migration“ schlussendlich umfasste. Und das, obwohl der Inhalt dort bekannt gewesen sein muss: Österreichische Diplomaten waren an der Ausarbeitung beteiligt und sowohl das Bundeskanzleramt als auch das Außen- und das Innenministerium in den Prozess eingebunden.

Nur die Identitären, die seit einigen Jahren immer wieder mit provokantem Aktivismus für Wirbel sorgen, machten mobil. „Unsere Demokratie ist in Gefahr. Unsere Identität ist in Gefahr. Unsere Souveränität ist in Gefahr“, schwadronierte Sellner, startete eine Internet-Petition und stellte „Steckbriefe“ der UN-Botschafter von Österreich, Deutschland und der Schweiz zum Download bereit: „Kennst du diesen Mann? Er ist ,dein’ Vertreter bei der UNO. In ,deinem Namen’ soll er am 11.12. den ,Migrationspakt‘ unterschreiben“, heißt es dort. Und weiter: „Das bedeutet unter anderem: Öffnung für ,244 Millionen globale Migranten‘. Freier Zugang zum Sozialsystem für Migranten. Sanktionen für ,intolerante‘ Kritiker.“

Der hier vorhandene Platz reicht nicht aus, im Detail darzulegen, wie diese Behauptungen den Text des Abkommens auf böswillige Art und Weise verzerren. Abgesehen davon ist Sellners Hauptvorwurf, die Vereinten Nationen wollten „im Endeffekt in Fragen der Migration die Volkssouveränität abschaffen“, hanebüchener Unsinn.

Das lässt sich leicht belegen: Bereits in der Präambel des Pakts wird explizit das „souveräne Recht von Staaten, ihre nationale Migrationspolitik zu bestimmen und ihr Vorrecht, Migration innerhalb ihrer Rechtsprechung zu regeln“, betont. Zudem ist das Abkommen völkerrechtlich ausdrücklich nicht bindend und wird, abgesehen von den üblichen Verdächtigen, von keinem an seiner Erstellung beteiligten Land als Gefahr für die Eigenständigkeit betrachtet.

Auch wenn die Petition der Identitären im Internet binnen weniger Tage 60.000 Unterschriften bekam: Man könnte die Gräuelpropaganda getrost ignorieren – hätte sich Kurz nicht vor die Presse gestellt und ihr Legitimität verliehen: „Wir sehen einige der Punkte, die in diesem Abkommen enthalten sein sollen, sehr kritisch“, erklärte der Bundeskanzler: „Wir werden daher alles tun, um die Souveränität unseres Landes aufrechtzuerhalten und sicherzustellen, dass wir in Migrationsfragen als Republik Österreich auch selbst entscheiden können.“ Nachgereichte Erklärung für den Alarmismus: Aus dem Pakt könnte sich möglicherweise eine „Bindungswirkung“ ergeben, sollten Gerichte darauf Bezug nehmen.

Befürchtungen in diese Richtung hatten bis dahin nur Rechtsextreme und -populisten sowie Verschwörungstheoretiker und ihre „alternativen“ Medien geäußert. Seit vergangenem Mittwoch macht sich auch das offizielle Österreich diese Denke zu eigen.

Darauf kann Martin Sellner tatsächlich einen heben.