Martin Staudinger: Sie wollen es wirklich
Auf den ersten Blick haben Wrexham und Westminster, abgesehen vom Anfangsbuchstaben, nicht viel gemein. Wrexham ist eine geradezu prototypische Arbeiterstadt im Nordosten von Wales. Westminster wiederum bildet gemeinsam mit der City of London einen der modernsten und internationalsten Wahlkreise Großbritanniens.
Trotzdem trafen Wrexham und Westminster am vergangenen Donnerstag dieselbe Entscheidung. Da wie dort votierten die Wähler mit klarer Mehrheit für den Austritt aus der EU. Genau genommen stimmten sie für die Tories, also die Konservative Partei – aber das ist in diesem Fall eigentlich das Gleiche. Und es gilt für den größten Teil des Vereinigten Königreichs.
Die längste Zeit gefiel man sich im Rest Europas in der Meinung, die Briten seien beim Austrittsreferendum am 23. Juni 2016 quasi besinnungslos in den Brexit getappt: besoffen von sentimentalem Nationalismus, getrieben von der Altersbosheit vergreisender Wählerkohorten und der Verstocktheit hinterwäldlerischer Provinzbewohner, eingelullt von den falschen Versprechungen gewissenloser Austrittsapologeten. Aber es werde – so die einhellige Einschätzung – den Inselbewohnern schon noch dämmern, welch fatalem Irrtum sie erlegen waren. Es bräuchte bloß ein zweites Referendum, um zur Vernunft zu kommen und erleichtert in die Arme Europas zurückzukehren.
Wenn jemand wissen will, wie dieses Referendum ausgegangen wäre (beziehungsweise ist) – hier sind die Ergebnisse: Tory-Chef Boris Johnson wurde mit dem Wahlkampfversprechen, den Brexit endlich und endgültig durchzuziehen, mit der größten parlamentarischen Mehrheit seit der Ära von Margaret Thatcher in den 1980er-Jahren ausgestattet – 365 von 650 Sitzen.
Und es kann keiner mehr behaupten, dass die britische Bevölkerung nicht wüsste, worauf sie sich einlässt: Sie hat über zwei Jahre hinter sich, in denen mehr als genug Zeit gewesen wäre, die Entscheidung zu revidieren. Seit dem Sommer 2016 wurde jede nur denkbare ernst zu nehmende Warnung vor dem EU-Austritt ausgesprochen und jedes erdenkliche Horrorszenario an die Wand gemalt. Die prominentesten Proponenten des Brexit-Lagers erwiesen sich als skrupellose Polit-Zocker, ihre wichtigsten Zusicherungen als unhaltbar oder von vornherein gelogen. Und es zeichnete sich ab, dass eine Trennung tatsächlich mit schwerwiegenden Konsequenzen verbunden sein könnte – andernfalls hätten die Behörden des Landes wohl nicht damit begonnen, für mögliche Engpässe, etwa im medizinischen Bereich, vorzusorgen.
Kurz gesagt: Alles hätte eigentlich dagegen gesprochen, auf der 2016 getroffenen Entscheidung zu beharren. Das Gegenteil war der Fall.
Wenn Gesellschaften Entscheidungen treffen, die wie pure Unvernunft wirken, dann muss man das nicht kapieren, aber akzeptieren.
Dass das Ergebnis so klar ausgefallen ist, mag auch mit anderen Faktoren zusammenhängen: dem Mehrheitswahlrecht (jeder Wahlkreis hat ein Mandat, das der Partei mit den meisten Stimmen zufällt; insgesamt bekamen die Tories nur 43,6 Prozent); dem sektiererischen Linkskurs der Labour-Partei und ihres Chefs Jeremy Corbyn; wohl auch dem Wunsch, das Thema Brexit endlich abzuschließen.
Letztendlich war es aber eine eindeutige Entscheidung für Johnson und den Austritt aus der EU. Und das konterkariert nicht zum ersten Mal die gängigen Einschätzungen über das Wesen der Rechtspopulisten und ihrer Wählerschaft. Eine davon lautete bislang: Wenn Leute wie Boris Johnson, Donald Trump, Viktor Orbán (Ungarn) oder Matteo Salvini (Italien) an die Macht kommen, wird es nicht lange dauern, bis sie entzaubert sind.
Nicht nur bei Johnson hat sich das als falsch erwiesen. Trump ist weit davon entfernt, in der Wählergunst abzustürzen. Die Ablehnung gegen ihn mag groß sein, sie ist über die Jahre aber nicht maßgeblich gestiegen, sondern auf konstantem Niveau geblieben – egal, was er sich geleistet hat.
Auch Orbán sitzt immer noch fest im Sattel. Salvini hat sich zwar politisch verspekuliert und wurde entmachtet. Laut Umfragen könnte er aber bereits im Jänner wieder einen Wahlsieg einfahren, und zwar ausgerechnet in der traditionell roten Region Emilia-Romagna.
All das kann nicht bloß einer kurzfristigen geistigen Verwirrtheit geschuldet sein, die Millionen von Wählerinnen und Wähler erfasst hat. Da spielen wohl auch rationale Erwägungen eine Rolle, selbst wenn sie einem Zeitgeist entspringen, der sich als Gegenreaktion auf das versteht, was 1968 begonnen hat.
Es gibt aber auch eine gute Nachricht: Dort, wo die Demokratie gefestigt ist, scheint sie auch nicht in Gefahr. Egal, mit welchen Untergriffen die politische Auseinandersetzung geführt wird – abgesehen von Ungarn halten sich die Beteiligten in den genannten Ländern an die grundlegenden Spielregeln.
Und das ist letztlich das Wichtigste: Wenn Gesellschaften Entscheidungen treffen, die wie pure Unvernunft wirken, dann muss man das nicht kapieren, aber akzeptieren. Dass sie es aus freien Stücken tun können, ist immer noch die beste Voraussetzung dafür, irgendwann wieder aus ebenso freien Stücken zur Vernunft zu kommen.