Martin Staudinger: Sie sind überall!
James aus York („The original York in England, not New York“, sagt er mit einem Grinser) ist eine ebenso beeindruckende wie einnehmende Erscheinung: Wuchtig wie ein Stein und gelassen wie ein Berg ruht er am Kopfende des Restauranttisches in sich, umgeben von einem Haufen Essen und Familie – Gattin Rose sowie Sohn James jun. mit seiner Ehefrau und zwei Kindern.
Nach einem kurzen Vorstellungsgeplänkel („Wow, Vienna! Da wollte ich immer schon hin“), ein paar sachdienlichen Informationen über York („Geschlossene mittelalterliche Stadtmauer, man kann rund um die ganze City wandern, das dauert aber einen halben Tag“) und Betrachtungen über die aktuelle Wetterlage in Nordengland („Sturm und Dauerregen, ich fürchte, das geht noch eine Weile so“) dauert es aber nicht lange, bis der Endfünfziger beim Thema Brexit angelangt ist.
Das heißt allerdings auch: Mit der Gelassenheit ist es vorbei.
Polen! Rumänen! Der Berg James erzittert
Polen! Rumänen! Der Berg James erzittert. Bangladescher! Inder! Sie kommen in Scharen, um sich in Großbritannien die Taschen vollzustopfen: Sozialhilfe ohne Ende, davon kannst du als Einheimischer nur träumen. Das öffentliche Gesundheitssystem haben sie schon übernommen und lahmgelegt. Als Engländer, grollt James, musst du monatelang auf einen Termin warten, wenn du überhaupt je einen bekommst – als Immigrant hast du natürlich sofort einen. An den Schulen: das Gleiche! Für jedes ausländische Kind gibt es einen Gratisplatz, die englischen haben keine Chance.
James sen. muss kurz pausieren und sich mit einem Schluck Bier beruhigen.
Da trifft es sich gut, dass James jun. neben ihm sitzt und einspringen kann: Und die Kriminalität! Frauen können sich nicht mehr vor die Türe trauen, Messerstechereien und Drogenmissbrauch überall.
Inzwischen hat sich James sen. wieder so weit gefangen, dass er zum analytischen Teil seiner Ausführungen übergehen kann. Es ist also, fasst er zusammen, höchst an der Zeit, dem ganzen Wahnsinn endlich Einhalt zu gebieten. Das geht eben nur mit dem Brexit, und nachdem Theresa May diesen monatelang versemmelt hat, ist jetzt glücklicherweise Boris Johnson am Ruder, der das ganz super macht.
„Boris macht gerade ein grandioses Spiel"
Das finden nicht nur die James’ aus York, sondern auch die Boulevardblätter, die bei den Zeitschriftenhändlern draußen auf der Promenade aushängen.
Da, die „Daily Mail“ zum Beispiel: „Die Brexit-Gegner haben keine Zeit mehr, einen glatten Bruch mit der EU zu verhindern. Und darüber sollten wir alle jubeln.“
Oder der „Daily Express“: „Boris macht gerade ein grandioses Spiel. Er starrt die EU nieder und stellt sicher, dass ihr klar ist: Die Drohung mit einem No-Deal-Brexit ist nicht bloß eine Drohung. Er meint es todernst.“
Oder die „Sun“: „Die neue Strategie des Premierministers signalisiert der EU mit aller Härte, dass dieses Land sich nicht länger von einem Wirtschaftsblock einschüchtern oder bedrohen lässt, der langsam untergeht.“
Haus in Marbella
James schaut über die Promenade auf den Strand hinaus, der nicht in Brighton, Plymouth oder einem anderen Badeort an der Küste Englands liegt, sondern in Marbella. Hier hat sich James ein Haus gekauft hat, vor 30 Jahren schon, und hier verbringt er so viel Zeit wie möglich.
James sen. ist einer von mehr als 800.000 Briten, die sich in Spanien angesiedelt haben: Immigranten, die als EU-Bürger keine Probleme haben, sich hier niederzulassen, Unternehmen zu gründen, zu arbeiten und das spanische Gesundheitssystem in Anspruch zu nehmen; für einen Arztbesuch braucht man bloß die Europäische Krankenversicherungskarte vorzuweisen.
Mit alledem könnte ab dem 31. Oktober allerdings Schluss sein, vor allem wenn Großbritannien die EU ohne Deal verlässt. Und das wäre – jetzt wird James sen. ein bisschen nachdenklich – doch recht unangenehm.
English breakfast um sechs Euro
Andererseits: „Die Europäische Union braucht uns mehr, als wir sie brauchen“, hat die „Sun“ kürzlich geschrieben. Es wird also, da ist James zuversichtlich, gar nicht so weit kommen, und er wird seine Urlaube weiterhin in Marbella verbringen, wo das Klima angenehm und das Leben günstig ist. Und wo dir die Polen, Rumänen, Inder und Bangladescher nicht den Platz im Wartezimmer wegnehmen.
Zeit zum Aufbruch, das Meer rauscht, die Palmen wiegen sich gemächlich im Wind. James sen. und James jun. verabschieden sich mit festem Händedruck und gehen in den warmen Abend hinaus. Vielleicht machen sie ja noch einen Abstecher in die Blue Palm Bar an der Promenade. Dort könnte man auf die Idee kommen, gar nicht in Marbella zu sein, sondern in Plymouth oder Brighton. In der Früh gibt es full English breakfast um sechs Euro, Cornish pasty um 2,90 und sausage rolls um 1,20. Und zu jeder Tageszeit draught cold cider.
Das Einzige, was die Idylle stören könnte, ist die Kellnerin. Sie spricht Englisch mit deutlich polnischem Akzent. Diese Immigranten sind doch tatsächlich überall!