Martin Staudinger: Echt jetzt?
So what if I’m out of control? Maybe that’s what I like about it So what? So what? Three Days Grace, „So what?“
Gemunkelt wurde schon länger darüber, seit vergangener Woche ist es offiziell: Christian Kern, ehemaliger Bundeskanzler der Republik Österreich, wird Aufsichtsrat der russischen Staatsbahn (RZD).
„So what?“, könnte man jetzt fragen. Erstens ist die Eisenbahnerei ein ehrenwertes Gewerbe, in dem Kern, zweitens, als ehemaliger Chef der ÖBB einschlägige Expertise hat. Drittens müssen auch Ex-Politiker von irgendetwas leben. Und viertens geht es eigentlich niemanden etwas an, wie sie das bewerkstelligen.
All das stimmt zwar prinzipiell. Mit einem Achselzucken ist es in diesem Fall trotzdem nicht getan. Denn der Kreml ist kein Brötchengeber wie jeder andere.
Man braucht Russland nicht zu dämonisieren. Die Brutalität, mit der es seine geopolitischen Interessen vorantreibt, kennt man auch von anderen Groß- und Mittelmächten, namentlich von Donald Trumps Vereinigten Staaten – nur dass Wladimir Putin und sein Machtklüngel dabei ganz konkret die EU ins Visier nehmen (und im Gegensatz zu einem US-Präsidenten und seiner Administration kein demokratisches Ablaufdatum haben).
Es gibt nicht nur Indizien, sondern auch handfeste Beweise für russische Einflussnahme auf die Gesellschaften und politischen Systeme Europas. Zu den dabei angewandten Methoden gehört es beispielsweise, Desinformation im Internet zu verbreiten und Konflikte in den sozialen Netzwerken zu schüren, um dadurch bereits bestehende Spannungen in der Gesellschaft zu verstärken.
Der Kreml ist kein Brötchengeber wie jeder andere.
Evident sind auch Versuche, sich radikale Bewegungen und Parteien dienstbar zu machen. Vor allem die Rechtspopulisten zeigen sich anfällig dafür. Der Rassemblement National in Frankreich hat nachweislich russisches Geld genommen, die italienische Lega und die Freiheitlichen in Österreich haben sich Ton- und Videoaufnahmen zufolge zumindest offen dafür gezeigt. Gleichzeitig vertreten alle drei Parteien eine dezidiert russlandfreundliche Linie, beispielsweise im Hinblick auf eine mögliche Aufhebung der EU-Sanktionen, die als Reaktion auf die militärischen Interventionen des Kremls in der Ukraine verhängt wurden.
Das verbindet sie mit anderen, weitaus reputierlicheren Politikern als Marine Le Pen, Matteo Salvini und Heinz-Christian Strache – beispielsweise eben mit Christian Kern, aber auch dem vormaligen ÖVP-Bundeskanzler Wolfgang Schüssel. Kern hatte sich, wenn auch nur verdruckst, 2017 als Sanktionsskeptiker zu erkennen gegeben, Schüssel sehr deutlich bereits im Jahr 2014: Die Verhängung wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen sei „immer ein Zeichen von Schwäche“, erklärte der Konservative damals.
Diesen Standpunkt kann man durchaus vertreten. Man kann als Politiker auch der Ansicht sein, dass der wirtschaftliche Schaden, der durch Sanktionen angerichtet wird, im Vergleich zu ihrem politischen Nutzen unverhältnismäßig ist – und dass es kontraproduktiv wäre, Russland ausschließlich als Gegner zu betrachten.
Wer Meinungen wie diese öffentlich zum Ausdruck bringt und daraufhin vom Kreml (oder seinem Umfeld) einen Job angeboten bekommt, sollte aber nicht der Illusion verfallen, wegen seiner Expertise engagiert zu werden. Dass der russische Mineralölkonzern Lukoil vor Kurzem Wolfgang Schüssel in seinen zwölfköpfigen Aufsichtsrat berufen hat, dürfte nicht in erster Linie fachliche Gründe haben. Und auch die Staatsbahn RZD mit ihrem 85.000 Kilometer langen Schienennetz müsste den Betrieb nicht einstellen, wenn Christian Kern, der im Vergleich dazu höchstens als ehemaliger Nebenstreckenbetreiber durchgehen würde, den Aufsichtsratsposten abgelehnt hätte.
In erster Linie geht es dem Kreml klarerweise darum, immer noch vorhandene politische Kontakte und Verbindungen für seine Zwecke zu nutzen.
Schüssel, Kern und einige andere (etwa der ehemalige ÖVP-Finanzminister Hans Jörg Schelling, der den russischen Energieriesen Gazprom beim Pipelineprojekt Nord Stream 2 berät) wurden irgendwann auf die Verfassung der Republik Österreich angelobt. Dass sich ihr Amtseid nicht auf die Zeit nach der Politik erstreckt, ist schon klar.
Prominenz und Einfluss – also alles, was sie in Wirklichkeit international interessant macht – haben sie sich aber als gewählte Vertreter einer liberalen Demokratie erworben. Und das zieht auch über das Amt hinaus eine gewisse Verpflichtung nach sich.
Diese muss man moralisch nicht allzu hoch hängen, selbst bei Jobs im Dunstkreis der Politik (was bei ehemaligen Amtsträgern meistens der Fall ist). Von Putins Russland eingekauft zu werden, bedeutet aber auch, sich für einen autoritären Staat einspannen zu lassen, der erkennbar daran arbeitet, die EU zu schwächen und ihre Werte zu delegitimieren – also gegen die ureigensten Interessen Europas.
So what? Echt jetzt?