Martin Staudinger: Das Evangelium nach Markus

Martin Staudinger: Das Evangelium nach Markus

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Und als die neunte Stunde nahte, nahm Markus Söder das Kreuz auf sich und trug es zu der Stätte, an der es errichtet werden sollte. Das Volk aber stand da und sah zu. Und nachdem es vollbracht war, sprach er … na gut, er twitterte, und zwar exakt um Viertel nach drei am Dienstag vergangener Woche unter einem Foto, das ihn mit einem Kruzifix vor einer Wand zeigt, aus der ein vorsorglich eingeschraubtes Hakerl ragt: „Klares Bekenntnis zu unserer bayerischen Identität und christlichen Werten. Haben heute im Kabinett beschlossen, dass in jeder staatlichen Behörde ab dem 1. Juni ein Kreuz hängen soll. Habe direkt nach der Sitzung ein Kreuz im Eingangsbereich der Staatskanzlei aufgehängt.“

An diesem Punkt wäre es verführerisch, den Auftritt von Söder, der seit Mitte März Ministerpräsident von Bayern ist, als religiös verbrämten Aktionismus zu verhöhnen. Aber das hieße, einer Frage auszuweichen, die Politik und Gesellschaft derzeit umtreibt wie kaum eine andere: jene nach der Identität Europas.

Mit dem Kruzifix-Erlass nehmen Söder und die bayerische Regierung für sich in Anspruch, eine allgemeingültige Antwort darauf geben zu können. Die Staatskanzlei begründet die verpflichtende Anbringung von Kreuzen in allen Amtsgebäuden mit der „christlich-abendländischen Prägung“ des Freistaats und lässt zwischen den Zeilen durchblicken, dass sich der Rest des Kontinents dabei durchaus mitgemeint fühlen dürfe.

Auch an diesem Punkt ist Hohn nicht angemessen. Denn mit einem haben die Bayern zweifelsohne recht: Es gibt kein Bezugssystem, in dem Europa stärker verortet ist als das Christentum. Mit seinen Symbolen und Ritualen, Prachtbauten und Werten sind alle, die hier aufwachsen und leben, permanent konfrontiert.

Daraus entsteht fast zwangsläufig eine Beziehung – beileibe nicht nur für überzeugte Kirchgänger. Denn wer eine Religion besonders vehement ablehnt, macht sie dadurch erst recht wieder zum Referenzpunkt. Am Karfreitag um drei Uhr nachmittags ostentativ eine Wurstsemmel zu essen, ist im Grunde auch nur das klägliche Eingeständnis, der Gravitation des Glaubens noch nicht entkommen zu sein.

Und selbst die Gleichgültigen sind letztlich an Strukturen gebunden, die sich in 2000 Jahren religiöser Praxis zum Grundgerüst der Gesellschaft verfestigt haben – auch wenn ihnen der Zusammenhang mit den langen Schlangen, die sich an Sonn- und Feiertagen vor der Kassa im Bahnhofssupermarkt bilden, gar nicht bewusst sein mag.

Das Christentum ist allgegenwärtig, und wie immer man zu ihm steht: Es hat entscheidend dazu beigetragen, dass Europa zu dem werden konnte, was es ist. Dennoch wirkt Söders Versuch, aus dieser Tatsache eine Art Identitätsdoktrin abzuleiten, perfide. Dass die Kruzifix-Pflicht dem Kalkül entspringt, der Konkurrenz am rechten Rand des politischen Spektrums möglichst viele Wähler abzutrotzen, erscheint dabei noch als das geringste Übel.

Unangenehmer wird es schon dort, wo die Bayern offenkundig ein repolitisiertes Christentum gegen den politischen Islam in Stellung bringen wollen, also ein neues Unheil gegen ein altes. Dahinter ist wiederum eine Bereitschaft zu erkennen, Staat und Religion näher aneinanderrücken zu lassen. Zu alldem kommt noch das offenkundige Bestreben des bekennenden Protestanten Söder, seine eigene Religiosität dem Rest der Welt als angebliche kulturelle Prägung aufzudrängen.

Ohne Christentum gäbe es das moderne Europa nicht. Ohne die Überwindung des Christentums aber ebensowenig.

Ginge es ihm nämlich darum, eine echte bayerische und europäische Identität zu definieren, also eine, in der sich nicht nur „Rechtgläubige“ wiederfinden, dann müsste er dabei über die Identifikation mit dem Christentum hinausgehen.

Das moderne Europa wäre ohne das Christentum und dessen Einfluss nicht entstanden; um entstehen zu können, musste dieses moderne Europa den Einfluss des Christentums aber auch überwinden. Ohne die Säkularisierungsbewegung des 18. Jahrhunderts und alles, was aus ihr folgte, wäre der Kontinent heute möglicherweise immer noch das, was Söder und andere berechtigterweise an der islamischen Welt kritisieren: eine Ansammlung von Staaten, deren Gesellschaften in unterschiedlichem Ausmaß unter der Dominanz der Religion leiden.

Hätte die Aufklärung ein Symbol, dann müsste dieses neben jedem bayerischen Dienstkruzifix an die Wand gehängt werden – und die allgemeine Erklärung der Menschenrechte sowie die europäische Grundrechte-Charta gleich dazu.

Söders Kruzifix-Erlass liegt gewiss im Zeitgeist rechter Identitätspolitik, und es ist nicht auszuschließen, dass er damit schon bald auch in Österreich Nachahmer findet. Aber wer die Wiederverstaatlichung des Glaubens betreibt, wird die Identität Europas nicht hervorheben – im Gegenteil: Er wird sie verleugnen, ehe (wie es im echten Evangelium nach Markus heißt) der Hahn zweimal kräht.