Martin Staudinger: Fürchtet euch – aber nicht zu sehr!

Martin Staudinger: Fürchtet euch – aber nicht zu sehr!

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Es gibt ein Unwohlsein im Hinblick auf die Flüchtlings- und Migrationswellen der vergangenen Jahre, das ehrlicherweise nicht einmal hartgesottene Kulturoptimisten so einfach als paranoid, rassistisch und xenophob aburteilen dürften: dass mit immer mehr muslimischen Einwanderern nach und nach auch ein rigider Islam gesellschaftspolitischen Einfluss in Europa gewinnen könnte.

Wer das befürchtet, hat kaum Schwierigkeiten, Anzeichen dafür zu entdecken. Die Zahl der Kopftuchträgerinnen hat im Straßenbild der Städte merklich zugenommen (auch wenn die Motive der Frauen darunter individuell höchst unterschiedlich sein mögen); Interessensvertreter islamischer Glaubensgemeinschaften treten offensiv auf (auch wenn sie lauter scheinen, als es ihrer Größe entspricht); von manchen Jugendlichen wird die Klassifizierung „haram“ – arabisch für: nach Scharia-Recht verboten – zum Verhaltensmaßstab stilisiert und dazu missbraucht, vor allem Mädchen zu disziplinieren (auch wenn das mehr mit pubertärem Machismo zu tun haben könnte als mit tatsächlichem Glaubenseifer).

Im anekdotischen Bereich fehlt es also nicht an Anlässen für die Sorge, dass sich eine rückwärtsgewandte Religion immer mehr ausbreitet und nicht nur Leerstellen im spirituellen Raum besetzt, sondern auch das Potenzial entwickelt, mühsam erkämpfte gesellschaftspolitische Fortschritte zu relativieren oder gar zurückzudrängen.

Umso überraschender sind Studien wie jene, die das Fachjournal „Religions“ vor wenigen Tagen unter dem sperrigen Titel „Die vielschichtige Rolle der Religion für Flüchtlinge, die um das Jahr 2015 in Österreich ankamen“ veröffentlichte. Verfasst wurde das Papier von einem Forschungsteam der WU Wien, das dafür zwei repräsentative Untersuchungen zum Thema Religiosität aus den vergangenen drei Jahren zusammengeführt und analysiert hat.

Der zentrale Satz darin lautet: „Die Studie kann gängige Vermutungen über das angeblich höchst traditionelle Islamverständnis der Flüchtlinge nicht bestätigen.“ Als „sehr religiös“ bezeichneten sich demnach lediglich elf Prozent der Befragten, die in jüngster Zeit nach Österreich gekommen sind; bei den – wohl überwiegend christlichen – Einheimischen liegt die entsprechende Rate fast gleich hoch, nämlich bei zehn Prozent. Umgekehrt attestierten sich 20 Prozent der Flüchtlinge, „wenig religiös“ zu sein (Österreicher: 23 Prozent). Mehr als zwei Drittel verorteten sich auf einer zehnteiligen Skala zwischen drei und acht, also im mittleren Bereich.

Also: Fürchtet euch nicht?

Hier gilt es erst einmal, zu differenzieren. Denn was beispielsweise als „sehr“ religiös gilt, ist Interpretationssache und auch von soziokulturellen Faktoren abhängig. Wer in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft lebt, in der die Kirche ihren Dominanzanspruch über die Politik längst aufgegeben hat, wird die Grenze zur Strenggläubigkeit anders ansetzen als jemand aus einem Umfeld, in dem Religion und Staat per Definition deckungsgleich sind.

Die Einstufung „sehr gläubig“ kann je nach Umfeld verschiedene Bedeutungen haben.

Zudem haben, wie auch die Studienautoren einräumen, viele der Befragten wohl auch sozial erwünschte Antworten abgeliefert. Diejenigen, die auf Englisch interviewt wurden, gaben sich deutlich weniger religiös als jene, mit denen die Gespräche auf Arabisch stattfanden; zudem ist es möglich, dass es einigen nicht ratsam erschien, sich in der gegenwärtigen Situation als überzeugte Muslime zu outen.

Sprich: Bei den Flüchtlingen und Zuwanderern, die sich freimütig als sehr gläubig einordneten, könnte es sich um einen deutlich härteren Kern handeln als bei den Einheimischen mit der gleichen Selbsteinschätzung.

Klarerweise ist „sehr gläubig“ nicht gleichbedeutend mit problematisch oder gar gefährlich für die Gesellschaft (abgesehen davon braucht ein vormodernes Gesellschaftsbild nicht zwangsläufig einen religiösen Hintergrund). Allerdings wird man mit einiger Wahrscheinlichkeit annehmen dürfen, dass gerade das konservativ islamische Milieu nicht unbedingt von überschwänglicher Sympathie für das Wertesystem der westlichen Demokratie geprägt ist.

Und auch wenn die Muslime, die sich selbst als strenggläubig betrachten, auf die Gesamtbevölkerung in Österreich gerechnet derzeit weniger als ein Prozent der Einwohner ausmachen – Demografie und Zuwanderung können ihren Anteil ebenso weiter wachsen lassen wie atmosphärische Faktoren. So weist die Studie auch darauf hin, dass konfessionelle Minderheiten in zweiter und dritter Generation umso religiöser sind, je mehr sie von der Mehrheitsgesellschaft als Bedrohung wahrgenommen und behandelt werden; aber gleichzeitig darauf, dass mit steigendem Bildungsniveau die Glaubensfestigkeit sinkt.

All das sind letztlich auch wieder gute Nachrichten. Sie bedeuten, dass die Entwicklung religiöser Einstellungen nicht schicksalhaft verläuft. Ungläubige können gläubiger werden, aber auch umgekehrt; Politik und Gesellschaft sind nicht dazu verdammt, hilflos dabei zuzusehen.

Und letztlich kann es nicht darum gehen, irgendjemandem seinen Glauben auszutreiben. Sondern nur darum, Religiosität am Rechtsstaat und an der liberalen Demokratie zu erden.