Martin Staudinger: Nichts gelernt
Wer sehen wollte, was sich da zusammenbraute, der konnte es auch sehen. In diesem Fall wollte das aber nur Johanna Mikl-Leitner so richtig. Man muss weder die niederösterreichische ÖVP-Landeshauptfrau super finden noch ihre frühere Politik als Innenministerin und schon gar nicht die Motive dahinter, um mit dem Wissen von heute eines zu konzedieren: Sie war im Jahr 2015 lange Zeit offenbar die einzige österreichische Politikerin, die auf die Gefahr einer bevorstehenden Flüchtlingskrise hinwies.
Bereits früh im Jahr 2015 brachte Mikl-Leitner im Ministerrat wieder und wieder ein Thema aufs Tapet, das alle nervte. Sogar die „eigenen Regierungskollegen“ hätten „oft nur mit den Augen gerollt“, weil die Innenministerin ständig über die steigende Zahl von illegalen Grenzübertritten und Asylanträgen reden wollte – so beschreibt es das gerade erschienene Buch „Flucht. Wie der Staat die Kontrolle verlor“, in dem drei Kollegen der „Presse“ die Ereignisse rund um die Flüchtlingskrise rekonstruieren. Demnach berief sich die Innenministerin bei ihren Warnungen auf Berichte von Verbindungsbeamten auf dem Balkan und Analysen des Heeresnachrichtenamts.
In den Dossiers, die der Regierung zur Verfügung standen, wurden auch die komplexen Gründe für den massiven Migrationsdruck benannt, unter anderem die Situation in den Flüchtlingslagern des Nahen Ostens. Im Libanon und in Jordanien hatte sich das World Food Programme (WFP) bereits im Oktober 2014 gezwungen gesehen, die Lebensmittelrationen für syrische Kriegsvertriebene um 40 Prozent zu kürzen. Grund: Geldnöte, weil viele Staaten (auch Österreich) zu geringe Beitragszahlungen leisteten.
Danach dauerte es kein Jahr mehr, bis die Flüchtlingskrise eskalierte und zu einer Situation führte, die – wie man es auch dreht und wendet – alles andere als wünschenswert war.
An dieser Stelle könnte man einen Punkt machen, um die Angelegenheit der Zeitgeschichtsschreibung und philosophischen Seminaren über das Thema Gesinnungs- versus Verantwortungsethik zu überlassen, und im Übrigen darauf vertrauen, dass die internationale Gemeinschaft aus dem Jahr 2015 gelernt hat.
Kann man aber nicht. Denn vor wenigen Tagen kündigten die UN per Aussendung an, dass dem WFP derzeit 30 Millionen Dollar fehlen und daher die Nahrungsmittelrationen in Kenia um ein Drittel gekürzt werden. In dem ostafrikanischen Land liegen zwei der größten Flüchtlingslager der Welt. Dadaab im Osten beherbergt vor allem Somalis; zeitweise dürfte ihre Zahl gegen eine Million gegangen sein, derzeit sollen es rund 250.000 sein. In Kakuma, das im Norden liegt, haben rund 170.000 Südsudanesen Zuflucht vor dem Bürgerkrieg gefunden, der in ihrer Heimat wütet.
Kenia ist ein Fall für die 'Hilfe vor Ort', die Sebastian Kurz verspricht. Wo bleibt sie?
Das heißt: In Kürze werden in Kenia mindestens 420.000 Menschen empfindlich weniger zu essen haben als jetzt. Und es scheint, dass gerade wieder der gleiche Fehler begangen wird wie im Jahr 2015. Das Faktum, dass sich in großen Flüchtlingslagern eine Versorgungskrise anbahnt, muss den Verantwortlichen bewusst sein – die möglichen Konsequenzen daraus auch.
Eine erkennbare Reaktion darauf gibt es auf internationaler Ebene vorerst nicht, ebensowenig in Österreich – auch von Sebastian Kurz hört man dazu nichts. Seltsam, denn der Hilferuf des WFP müsste dem Außenminister eigentlich einen unwiderstehlichen Anlass bieten, sein im Wahlkampf lang und breit propagiertes Konzept der „Hilfe vor Ort“ voranzutreiben. Immerhin hat er es genau für Fälle wie diesen erfunden: um zu verhindern, dass sich Hunderttausende Flüchtlinge aus Verzweiflung über ihre triste Lage auf den Weg ins Ungewisse machen.
Man kann viele Vermutungen darüber anstellen, warum das so ist. Letztlich laufen sie darauf hinaus, dass die Begeisterung für humanitäre Präventivmaßnahmen immer nur so groß ist wie die Angst vor negativen Konsequenzen durch Tatenlosigkeit. Einfacher gesagt: Solange uns eine Flüchtlingskrise nicht betrifft, interessiert sie uns auch nicht.
Das ist als innenpolitische Perspektive auch durchaus legitim. Zudem lässt sich die Lage in Ostafrika nicht eins zu eins mit jener im Nahen Osten vor drei Jahren gleichsetzen. Die Kürzung der WFP-Rationen dort war – schlimm genug – nur einer von mehreren akuten Faktoren, die zur Flüchtlingskrise 2015 führten.
Das kann allerdings kein Argument dafür sein, dass 420.000 Menschen die ohnehin kargen Rationen gestrichen werden müssen, weil es die internationale Gemeinschaft nicht schafft, läppische 30 Millionen Dollar zusammenzukratzen.
Abgesehen davon ist die Region weniger weit entfernt, als es beim Blick auf die Landkarte scheinen mag – und in höchstem Maße instabil. „Ostafrika hat derartige strategische Bedeutung, dass alle, die sich nicht dafür interessieren, eines Tages den Preis dafür zahlen werden“, sagt Alexander Rondos, EU-Sonderbeauftragter für das Horn von Afrika, der kürzlich im Wiener Kreisky-Forum zu Gast war.
Wer sehen will, was sich da möglicherweise zusammenbraut, kann es also auch diesmal sehen. Wer sich fragt, wie 2017 darauf reagiert wird, kann gleich wieder oben zu lesen beginnen.
Und noch dazu ist Johanna Mikl-Leitner in St. Pölten unabkömmlich.
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