Martin Staudinger: Die Österreich-zuerst-Klausel
Können Sie sich noch erinnern? Es ist gar nicht lange her, da war Österreich damit beschäftigt, sich als eine Art außenpolitische Führungsmacht in Europa zu inszenieren. Während der Flüchtlingskrise des Jahres 2015 wusste vor allem die ÖVP-Regierungsfraktion besonders genau, wo es langgehen sollte. Sebastian Kurz etwa erklärte der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini in einem Fünf-Punkte-Plan forsch, wie die Gesamtlage in den Griff zu bekommen sei.
Dabei hatte der damaligen Außenminister nicht nur die Balkanroute im Blick, sondern den ganzen Nahen Osten und halb Afrika: Schutz- und Pufferzonen für Verfolgte, Friedensinitiativen, Investitionen in humanitäre Unterstützung und so weiter. Hochfliegende Forderungen, vorgetragen in fast anmaßender Art und Weise, gewiss. Aber immerhin: Ideen und Lösungsvorschläge, die über eine Grenzsperre bei Klingenbach hinausgingen. Eine zentrale Schlussfolgerung der Überlegungen von Kurz bestand darin, es gebe „keine Alternative zu einem geschlossenen, solidarischen Vorgehen im Rahmen der EU“.
Dass er in der Folge geschickt den Eindruck verbreitete, die Balkanroute quasi eigenhändig abgesperrt und damit den Kontinent im Allein- vor dem Untergang bewahrt zu haben, muss man ihm nicht vorwerfen. Es zeugt vor allem von innenpolitischem Geschick und trug maßgeblich dazu bei, ihn vom Außenministerium ins Kanzleramt zu befördern. Auf den 150 Metern Fußweg vom Minoritenplatz 8 zum Ballhausplatz 2 ist vom geo- und EU-politischen Anspruch früherer Tage aber nicht viel übrig geblieben – zumindest, wenn man das von der ÖVP/FPÖ-Koalition unter Bundeskanzler Kurz vorgelegte Regierungsprogramm als Indikator heranzieht. Lediglich vier von insgesamt 182 Seiten umfasst das Kapitel Europa und Außenpolitik. Und es beginnt mit einer eindringlichen Versicherung: „Maßstab unseres internationalen Handelns sind die Interessen Österreichs und seiner Bevölkerung.“
Dagegen lässt sich schwer etwas sagen. Welche ernstzunehmende Regierung könnte anderes im Sinn haben als das Wohl ihrer Bürgerinnen und Bürger? Und: Ist es nicht legitim, staatliche Interessen zu haben und als solche zu benennen? Im türkis-blauen Regierungsprogramm dient der Satz allerdings als Auftakt zu einer Serie von Österreich-zuerst-Klauseln, neben denen alle Bekenntnisse zum „europäischen Friedens- und Einigungsprojekt“ und zur Mitwirkung in der internationalen Gemeinschaft wie Lippenbekenntnisse wirken.
Im Großen und Ganzen vermitteln die vier Seiten des schwarz-blauen Außenpolitik-Programmes letztlich den Eindruck ängstlicher Weltabgewandtheit.
Aktive EU-Politik? Ja, aber nur, wenn „das Prinzip der Subsidiarität“ – ein etwas eleganteres Wort für alles, was auf Re-Nationalisierung hinausläuft – „im Mittelpunkt“ steht. Sprich: nur, wenn es uns in den Kram passt.
Engagierte Außenpolitik? Auch das, aber in erster Linie unter Bedachtnahme darauf, dass die Neutralität Österreichs als „wichtiger identitätsstiftender Faktor … bei allen internationalen Abkommen zu berücksichtigen“ ist. Sprich: vorausgesetzt, wir können uns unter Berufung darauf aus der Affäre ziehen, wenn es brenzlig wird.
Tatkräftige Handelspolitik? Schon, aber nur „unter Wahrung österreichischer Regeln und Standards insbesondere zum Schutz unserer Konsumenten“. Sprich: nur, wenn wir nirgendwo Konzessionen machen müssen.
Effiziente Entwicklungspolitik? Durchaus, aber vor allem als „Instrument eines wohlverstandenen Eigeninteresses Österreichs mit dem Ziel, insbesondere Migrationsströme zu verhindern“. Sprich: nur, wenn wir letztlich davon profitieren.
Abgesehen davon ist auf sehr wenigen Seiten sehr viel von Bedrohungen die Rede – vor allem von steigender Terrorgefahr. Um ihr Rechnung zu tragen, sollen beispielsweise österreichische Botschaften zu „Sicherheitshubs bzw. Stützpunkten für Auslandsösterreicherinnen und Auslandsösterreicher“ und das Außenministerium als „Horch- und Frühwarnsystem“ dienen. Daneben gibt es noch abstruse Ideen wie jene, die Südtiroler mit österreichische Pässen auszustatten; und ein seltsames Beharren darauf, Österreich müsse die Spannungen zwischen Russland und dem Westen abbauen, hinter dem wohl das Bussi-Bussi-Verhältnis der FPÖ zum Kreml steckt.
Im Großen und Ganzen vermitteln die vier Seiten letztlich den Eindruck ängstlicher Weltabgewandtheit. Was dem EU- und außenpolitischen Kapitel des Regierungsprogramms nämlich komplett fehlt, ist jede Art von positiver Ambition im Lichte der Erkenntnis, dass es in einer vernetzten Welt mit all ihren Problemen eher keine gute Idee ist, sich in Nationalismus und Kleinstaaterei zu verbarrikadieren.
Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hat das erkannt wie kein anderer europäischer Politiker seit Langem. In seiner großen Europa-Rede an der Sorbonne behandelte er im vergangenen September genau dieselben Themen, denen auch die ÖVP/FPÖ-Koalition zentrale Bedeutung beimisst. Allerdings tat Macron das unter dem Signum des (durchaus mit Risiken verbundenen) Aufbruchs – und nicht des Rückzugs.
Diesen Freitag absolviert Sebastian Kurz seine erste bilaterale Auslandsreise. Sie führt zu Macron nach Paris und nicht (wie für einen österreichischen Kanzler traditionell üblich) nach Bern oder (wie von manchen befürchtet) nach Budapest. Das lässt zumindest hoffen, dass die Papierform des Regierungsprogramms nicht das Ende der Geschichte sein muss.
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