Martin Staudinger: Realitätsverweigerung

Dem EU-Ratsvorsitz Österreich ist es offenbar nicht ernst damit, illegale Zuwanderung zu verhindern. Andernfalls müssten Kurz & Co. mit Hochdruck Konzepte für legale Migration vorantreiben.

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Reden wir doch einmal über Realitätssinn: Also über das, was die Propagandisten der Null-Migration gern all jenen absprechen, die daran zweifeln, dass hermetisch dichte Grenzen die Lösung aller Probleme sein können.

Am vorvergangenen Freitag einigte sich die Vollversammlung der Vereinten Nationen einigermaßen unbemerkt auf ein Abkommen, das mit Fug und Recht als historisch bezeichnet werden kann: den „Globalen Pakt für sichere, geordnete und geregelte Migration“. Auf 34 Seiten werden darin zwei Dutzend Maßnahmen aufgelistet, um die weltweite Mobilität in geordnete Bahnen zu lenken. Was derzeit eine gefühlte Bedrohung für die einen und ein hochriskantes Wagnis für die anderen ist, soll zum Vorteil für alle werden, so die Intention.

Man kann gegen das Papier einiges einwenden: etwa, dass die darin formulierten Ziele allzu hoch gesteckt und die damit verbundenen Erwartungen allzu optimistisch sind; auch, dass es letztlich unverbindlich, weil juristisch nicht verpflichtend ist. Trotzdem wird der Pakt der Wirklichkeit weit mehr gerecht, als es der populistische Polit-Zeitgeist wahrhaben will.

Seine eigentliche Kernaussage besteht darin, dass Migration ein Teil der Conditio humana, also der menschlichen Natur ist. Oder, um die zuständige UN-Beauftragte Louise Arbour zu zitieren: „Es ist nicht sehr hilfreich, darüber zu debattieren, ob Migration gut oder schlecht ist. Migration ist eine Tatsache: Menschen migrieren. Sie sind in der Vergangenheit immer migriert und werden es aller Wahrscheinlichkeit nach auch in Zukunft weiter tun.“

Daraus ergibt sich eine Reihe von Tatsachen, mit der auf unterschiedliche Weise alle klarkommen müssen, die sich mit dem Thema befassen.

Zunächst einmal zeigen die Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit: Ein großer, wenn nicht der größte Teil der globalen Wanderungsbewegungen (von denen Europa zwar nicht in absoluten Zahlen, aber im Hinblick auf den prozentuellen Anteil von Immigranten an der Bevölkerung besonders stark betroffen ist) geht auf jenes Motiv zurück, das in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung als „pursuit of happiness“ bezeichnet und legitimiert wird – die Suche nach einem besseren Leben. Sprich: Es sind deutlich mehr Migranten unterwegs als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention (GFK). Allerdings versuchen Erstere mangels legaler Chancen auf Aufnahme bekanntlich scharenweise, als Letztere anerkannt zu werden, was das ohnehin nicht für eine Situation wie die aktuelle gedachte Asylsystem kollabieren lässt. Ein Umstand, der erstens dafür spricht, klar zwischen Flüchtlingen und Migranten zu unterscheiden, und zweitens dagegen, die GFK durch eine immer großzügigere Definition von Asylgründen weiter zu belasten.

Auf lange Sicht überwiegen, auch wenn das derzeit im industrialisierten Norden praktisch niemand wahrhaben will, die positiven Effekte der Migration.

Die Weltgeschichte zeigt wiederum: Die Schließung von Grenzen kann Migration zwischenzeitlich reduzieren, aber nicht nachhaltig stoppen. Vielmehr entsteht eine „Spirale, die man an der Südgrenze der Vereinigten Staaten beobachten kann. Dort wuchsen die Ausgaben zur ,Grenzsicherung‘ seit den frühen 1990er-Jahren immer mehr. Nach einem kurzfristig markanten Effekt des Rückgangs verlagerte sich die Bewegung und nahm wieder zu.“ Diese Ausführungen stammen nebenbei erwähnt nicht aus dem Jahresbericht der Caritas, sondern aus einem Beitrag des Historikers Frank Wolff für die konservative „F.A.Z.“.

Und die Wirtschaftswissenschaft zeigt: Auf lange Sicht überwiegen, auch wenn das derzeit im industrialisierten Norden praktisch niemand wahrhaben will, die positiven Effekte der Migration – bis hin dazu, dass die Geldtransfers von Auswanderern eine bedeutende Rolle bei der Bekämpfung von Fluchtursachen spielen. Den Belastungen, die damit einhergehen, trägt der UN-Pakt übrigens auch Rechnung. Er hält fest, dass es klarerweise für jeden Staat legitim ist, selbst zu entscheiden, wen er als Zuwanderer akzeptiert, solange dabei das internationale Recht gewahrt bleibt.

Die österreichische EU-Ratspräsidentschaft, mit dem vollmundigen Vorhaben angetreten, einen „Paradigmenwechsel in Migrations- und Asylpolitik“ (Bundeskanzler Sebastian Kurz) herbeizuführen, hat es bislang tunlichst vermieden, sich mit derlei Feinheiten zu belasten. Stattdessen beschränkt sie sich auf immergleiche Plattitüden („Schutz der Außengrenzen“) und altbekannte Phantasmagorien („Marschallplan für Afrika“). Neu an alledem ist bloß das Ausmaß des Zynismus und die offenkundige Bereitschaft, die kostbarsten europäischen Grundwerte auf dem Basar der populistischen Böswilligkeit zu verramschen („kein Asylantrag mehr auf europäischem Boden“).

Letztlich lässt sich die Essenz des UN-Pakts, zu dem sich abgesehen von den USA und Ungarn alle Mitglieder der Vereinten Nationen bekannt haben, auf einen Satz reduzieren: Wer es ernst damit meint, illegale Migration zu verhindern, wird nicht umhinkommen, legale Migration zu ermöglichen. Oder, anders gesagt: Langfristig lassen sich gerade für Europa Grenzen nur schützen, indem man sie ein Stück weit öffnet. Eine weitsichtige, an einem wirklich zukunftsorientierten Paradigmenwechsel interessierte EU-Ratspräsidentschaft müsste diesen Widerspruch erkennen und zur Grundlage ihres Handelns machen. Alles andere zeugt tatsächlich von mangelndem Realitätssinn.