Martin Staudinger: Recht so
Es sind Entscheidungen, die – je nach politischem Gusto – viele Leute empören dürften: Vergangenen Mittwoch holten die deutschen Behörden einen Asylwerber, den sie bereits nach Afghanistan abgeschoben hatten, ins Land zurück: Das Auswärtige Amt buchte einen Flug für den 21-jährigen Nasibullah S. und zahlte ihm das Ticket.
Vor ein paar Wochen wurde die Kommune Wetzlar dafür bestraft, dass sie es der rechtsextremen NPD verwehrt hatte, den Stadtsaal für eine Veranstaltung zu benutzen. Ein Verwaltungsgericht verhängte dafür ein Bußgeld von 7500 Euro.
Darf das sein? Ja. Es darf, es kann, es muss sogar sein.
Im Fall von Nasibullah S. hatte das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ein Verwaltungsgericht übergangen, bei dem der Afghane wegen eines Einspruchs gegen seine Abschiebung zur Anhörung vorgeladen war. Das BAMF führte die Deportation durch, ohne diesen Termin abzuwarten. Nach seiner Rückführung erhält Nasibullah S. nun die Chance, sein Anliegen nochmals vorzutragen. Ein Präjudiz für den Ausgang des Verfahrens ist das nicht.
Im Fall der NPD ignorierte die SPD-regierte Stadt Wetzlar das deutsche Bundesverfassungsgericht, das einem Einspruch der Rechtsextremen stattgegeben und verfügt hatte, die Veranstaltungshalle für sie zu öffnen. Die Geldstrafe ist ein klares Signal an die Verantwortlichen, dass die Missachtung von Gerichtsurteilen nicht akzeptabel ist.
Beide Fälle erinnern an die eminente Wichtigkeit eines Rechtsstaats, der in den Grundwerten der liberalen Demokratie geerdet ist – aber auch daran, unter welchem Druck diese Idee des Rechtsstaates derzeit steht.
In der Visegrád-Ecke der Europäischen Union ist das evident. In Ungarn hat Viktor Orbán die Justiz in den vergangenen Jahren ungeniert umgekrempelt. Er ließ ein Drittel der Richterschaft gegen Juristen austauschen, die ihm politisch genehm oder gar gefügig sind. Und er ließ Gesetze verabschieden, die offenkundig in erster Linie dazu dienen, die ideologischen Bedürfnisse der rechtsnationalen Regierung und ihrer Anhänger zu befriedigen. Polen ist gerade im Begriff, dieses Vorbild zu kopieren.
Eines der wichtigsten Prinzipien des Rechtsstaats europäischer Prägung besteht darin, dass er unabhängig von den emotionalen Ausnahmezuständen funktioniert, in denen sich Politik und Gesellschaft gerade befinden.
Vom Totalumbau des Rechtsstaats, der in Ungarn und Polen vor sich geht, kann im Rest Europas noch keine Rede sein. Dennoch sind auch dort Tendenzen erkennbar, sich über die Justiz hinwegzusetzen – gerade, wenn es emotional hoch hergeht.
Besonders augenfällig wurde das, als die deutschen Behörden Mitte Juli einen Tunesier namens Sami A. per Privatjet in seine Heimat abschoben, obwohl ein Verwaltungsgericht dies ausdrücklich untersagt hatte, weil ihm in Tunesien Gefängnis und Folter drohten. Bundesinnenminister Horst Seehofer war in die Nacht-und-Nebel-Aktion offenbar eingeweiht. Welche Rolle der Bayer konkret spielte, ist noch immer nicht geklärt. In seiner Rolle als Asyl-Hardliner profitierte er aber jedenfalls davon, dass an Sami A. ein Exempel statuiert wurde.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Gute Gründe, den Tunesier loswerden zu wollen, gab es mehr als genug. Der Mann, der angeblich eine Zeit lang als Leibwächter von Osama bin Laden gedient hatte, unterhielt gute Kontakte zur Islamistenszene, war als „Gefährder“ polizeibekannt und als „vollziehbar ausreisepflichtig“ eingestuft.
Aber darum geht es nicht. „Man kann diese Anordnung (Sami A. derzeit nicht abzuschieben, Anm.) falsch finden, man hätte sie von einer höheren Instanz überprüfen lassen können, aber man darf sie nicht ignorieren“, heißt es in einem Kommentar der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“. Noch drastischer formulierte es die Bundesjustizministerin Katarina Barley: „Was unabhängige Gerichte entscheiden, gilt. Wenn Behörden sich aussuchen, welchen Richterspruch sie befolgen und welchen nicht, ist das das Ende des Rechtsstaates“, sagte die SPD-Politikerin gegenüber der „Berliner Morgenpost“.
Eines der wichtigsten Prinzipien des Rechtsstaats europäischer Prägung besteht darin, dass er unabhängig von den emotionalen Ausnahmezuständen funktioniert, in denen sich Politik und Gesellschaft gerade befinden. Den einen mag es nicht passen, dass das Bundesverfassungsgericht dabei einer Partei wie der NPD beispringt, die vergangenes Jahr wegen nachgewiesener Verfassungsfeindlichkeit knapp an einem Verbot vorbeischrammte. Die anderen mögen sich daran stoßen, dass ein Asylwerber den Rechtsweg bis zur letzten Instanz beschreiten kann.
Aber das müssen sie aushalten, weil nur so sichergestellt ist, dass im Ernstfall alle zumindest eine Chance haben, zu ihrem Recht zu kommen.