Martin Staudinger: Es ist eben nicht das Gleiche

Frage: Steckt Russland hinter dem Giftanschlag in Großbritannien? Gegenfrage: Warum redet niemand über die Untaten der USA? Versuch einer differenzierten Antwort.

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Wer, wie die meisten Leute über 35 hierzulande, den Kalten Krieg bewusst erlebt hat, ist ihn mit einiger Wahrscheinlichkeit bis heute nicht ganz losgeworden. Die Meinung, dass Russland mit der Sowjetunion auch ein „Reich des Bösen“ errichtet habe, war damals mehr oder minder unumstritten, angesichts der im Ostblock herrschenden kommunistischen Diktatur aber nicht ganz unbegründet. Dass die USA im Gegensatz dazu das Gute repräsentierten, wurde gemeinhin ebenso wenig infrage gestellt – auch wenn niemandem verborgen bleiben konnte, was die Vereinigten Staaten in Vietnam und anderswo angerichtet hatten.

Kein Zweifel: Dieser Gegensatz, der sich bis zum Zweiten Weltkrieg zurückverfolgen lässt, beeinflusst bei vielen noch immer die Wahrnehmung Russlands und Amerikas. Und es schadet nicht, sich dessen bewusst zu sein, wenn man den Versuch unternimmt, die aktuellen Ereignisse mit Kreml-Bezug einzuordnen.

Zum Beispiel den Mordanschlag auf den in Großbritannien lebenden russischen Ex-Agenten Sergej Skripal und dessen Tochter oder die Unterstützung des syrischen Assad-Regimes bei der Rückeroberung syrischer Rebellengebiete ohne Rücksichtnahme auf die Zivilbevölkerung.

Wer als Journalist darüber berichtet, muss sich auf (zumeist hoch aggressive) Mails und Postings gefasst machen, in denen die Frage gestellt wird, warum immer nur Russland angeprangert werde, nicht jedoch die USA. Wer als Journalist in seiner Jugend im Kalten Krieg sozialisiert wurde, spürt umgehend aber auch den Reflex, diese Frage vom Tisch zu wischen, weil: Reich des Bösen, siehe oben.

Aber es stimmt schon, auch das Sündenregister der Vereinigten Staaten ist beeindruckend. Allein seit 2001 haben sich so viele Anklagepunkte gegen die USA angesammelt, dass ein ernstzunehmender Internationaler Strafgerichtshof mit der Aufarbeitung einige Jahre lang gut zu tun hätte. Sie betreffen beispielsweise die Geheimgefängnisse, die nach den Anschlägen von 9/11 eingerichtet wurden, um aus Verdächtigen Informationen herauszufoltern (wofür eine der Beteiligten, Gina Haspel, erst vergangene Woche mit dem Job der CIA-Vizechefin belohnt wurde); oder den auf Lügen basierenden Einmarsch im Irak, der mangels eines Friedensplans den Kollaps der gesamten Region heraufbeschwor; die Kriegsführung mit Drohnen, die zahllose zivile Todesopfer gefordert hat; das Gefangenenlager Guantanamo, in dem zu Unrecht Verdächtigte misshandelt und ihrer Freiheit beraubt wurden und werden; die Verwendung von Uran-Munition und ihre Folgen für die betroffene Bevölkerung – und, und, und.

Hinter vielen Aktivitäten, die Russland zugeschrieben werden, lässt sich bloß das Interesse erkennen, die Macht eines Systems von Günstlingen und Profiteuren rund um Präsident Wladimir Putin abzusichern.

Was die Zahl der unschuldigen Opfer und das Ausmaß der Kollateralschäden seiner Machtpolitik betrifft, muss sich Amerika durchaus mit Russland vergleichen lassen.

Eine der betrüblichen, aber unumstößlichen Erfahrungen aus der Menschheitsgeschichte lautet: Große Staaten begehen große Verbrechen.

Das ist aber kein Grund, Russland die Absolution zu erteilen. Erstens ist die Brutalität, die der Kreml bei der Durchsetzung seiner Interessen an den Tag legt, derzeit konkurrenzlos. Es gibt begründete Hinweise darauf, dass seine Streitkräfte in Syrien gezielt Spitäler und andere zivile Einrichtungen ins Visier genommen haben. Und es gibt den ebenso begründeten Verdacht, dass russische Geheimdienste in das Attentat auf den Ex-Agenten Skripal verwickelt waren. Der 66-Jährige wurde mit einem in den 1970er-Jahren von Sowjet-Wissenschaftern entwickelten Nervenkampfstoff vergiftet; bei dem Anschlag kamen auch die Tochter des Mannes und ein Polizeibeamter schwer zu Schaden, weitere 18 mussten medizinisch behandelt werden. Für Vorwürfe gegen Amerika in dieser Preisklasse sieht abseits von Verschwörungstheoretikern wohl niemand eine Faktengrundlage.

Wichtiger ist aber ein zweiter Punkt: Amerikas „Krieg gegen den Terror“ mag völlig aus dem Ruder gelaufen sein. Sein ursprüngliches Ziel war aber durchaus legitim: die Drahtzieher von 9/11 zur Rechenschaft zu ziehen und weitere Anschläge zu verhindern. Hinter vielen Aktivitäten, die Russland zugeschrieben werden, lässt sich aber bloß das Interesse erkennen, die Macht eines Systems von Günstlingen und Profiteuren rund um Präsident Wladimir Putin abzusichern.

Und drittens: Wenn die USA etwas anrichten, sind die Chancen, dass die Verantwortlichen in der Öffentlichkeit zur Rechenschaft gezogen werden, groß. Geheimgefängnisse, Guantanamo, Irak – all das wurde enthüllt, berichtet und heftig debattiert, ohne dass die Regierung Medien und Kritiker mundtot gemacht hätte. Selbst Chelsea Manning (sie wurde als Mann geboren und hieß vor ihrer Geschlechtsumwandlung Bradley), die einige der größten US-Verbrechen durch die Weitergabe interner Unterlagen aufdeckte und dafür zu 35 Jahren Haft verurteilt wurde, ist mittlerweile wieder frei.

Im Umfeld des Kreml reicht schon deutlich weniger, um hinterrücks erschossen zu werden, wie der Oppositionspolitiker Boris Nemzow (2015), oder radioaktiv vergiftet zu werden, wie der Überläufer Alexander Litwinenko (2006).

All das ist wiederum kein Grund, den USA die Absolution zu erteilen. Aber es gibt, selbst wenn man immer noch den Kalten Krieg im Hinterkopf hat, gute Gründe dafür, Amerika nicht einfach mit Russland gleichzusetzen – schon gar nicht, um damit Giftattentate und die Bombardierung von Spitälern zu relativieren.

[email protected] Twitter: @martstaudinger