Martin Staudinger: Seuchenregimewechsel
Freilich – man könnte jetzt argumentieren, dass er im Moment ja wirklich Besseres zu tun hat; dass er eben Prioritäten setzen muss; dass der Satz nur so dahingesagt war, in einer Situation, in der andere Probleme wichtiger sind: „Ich habe nicht die Zeit, mich mit Ungarn auseinanderzusetzen“, wischte Sebastian Kurz am Montag vergangener Woche in einer „ZIB-Spezial“ Fragen nach der politischen Situation im Nachbarland vom Tisch.
Allerdings – es ist nicht schwer, zu erfassen, was dort gerade vorgeht: nämlich eine „Selbstausschaltung des Parlaments“, wie es Vizekanzler Werner Kogler, diesbezüglich offenbar multitaskingfähiger als Kurz, formulierte. Das zu benennen und zu problematisieren, sollte sich auch mitten in der Corona-Krise zeitlich ausgehen.
Insofern ist mehr als enttäuschend, dass Kurz Viktor Orbáns bislang schlimmsten demokratiepolitischen Sündenfall einfach so als nebensächlich abtut; und dass es tagelang dauerte, bis sich Europaministerin Karoline Edtstadler zu ein paar dürren Worten dazu durchringen konnte; dass sich Österreich dem Protest von 13 europäischen Volksparteien gegen den Missbrauch der Pandemie zum Zweck des Demokratieabbaus nicht anschließt.
Was ist konkret geschehen? Orbán regiert Ungarn jetzt mithilfe von Notverordnungen von eigenen Gnaden – und zwar, unter Berufung auf die Corona-Krise, zeitlich unbefristet.
Damit gehen schwerste Eingriffe in die demokratischen Grundrechte einher: Es dürfen etwa keine Wahlen abgehalten werden, die Pressefreiheit ist de facto außer Kraft gesetzt. Theoretisch könnte das Parlament dem Premierminister sein Notfall-Pouvoir zwar auch wieder entziehen. Das ist angesichts einer Zweidrittelmehrheit der Regierungsparteien aber kaum zu erwarten, solange der Ausnahmezustand andauert – und wie lange das sein wird, darüber entscheidet wiederum Orbán.
Man wird Kurz und dem Rest der österreichischen Regierung ähnliche Motivationen wie Orbán nicht unterstellen können. Aber in einem Punkt zeigt die Vorgangsweise Ungarns auf, was auch hier von der Öffentlichkeit zunehmend als Problem wahrgenommen wird: die Art und Weise, wie der Bevölkerung von oben substanzielle Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten auferlegt werden.
Einige Beispiele ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Das Verbot, Supermärkte ohne Grippemaske zu betreten, wurde hierzulande vorerst ohne saubere gesetzliche Grundlage erlassen – eine Verordnung soll erst folgen, wenn klar ist, ob sich alle daran halten. ÖVP-Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger erklärte die Sperre großer Parkflächen im (roten) Wien mit dem pampigen Hinweis, auch dort lauere die Corona-Gefahr. Und selbst wenn die meisten Erlässe und Verordnungen, auf denen die Maßnahmen beruhen, auslaufen – sie können von der Regierung ebenso einfach verlängert werden, wie sie eingeführt wurden.
Eine Regierung, die demokratische Prinzipien ernst nimmt, muss Maßnahmen, wie sie derzeit in Kraft sind, regelmäßig und in kurz bemessenen Abständen vor der Öffentlichkeit rechtfertigen.
All das geschieht mit für derart tiefe Einschnitte in das öffentliche Leben einigermaßen schwachen Begründungen. Zumal mittlerweile längst umstritten ist, ob die extremen Maßnahmen tatsächlich die extreme Wirkung haben, mit der ihre Verhängung argumentiert wird.
Der Virologe Hendrik Streeck geht etwa davon aus, dass Mundschutz im Supermarkt nicht viel bringt. Streeck ist nicht irgendwer, sondern jener Mediziner, der in Deutschland die meisten Covid-19-Patienten und die Umstände ihrer Infektion untersucht hat. Seine Erkenntnis: Um die Erkrankung weiterzugeben, ist sehr enger körperlicher Kontakt nötig; eine zufällige Begegnung, etwa in einem Geschäft oder Restaurant, reicht nicht aus.
Nun muss auch Streeck nicht zwangsläufig recht haben; für Politiker mit Verantwortung für Millionen von Staatsbürgern gilt im Zweifelsfall das Prinzip Vorsicht; und die Corona-Krise ist noch lange nicht vorbei.
Aber genau deshalb ist es höchste Zeit, wieder zum demokratischen Normalbetrieb zurückzukehren. Der erste Schritt dahin wäre, dem Ausnahmezustand (nennen wir die gegenwärtige Situation einmal so, auch wenn sie es im rechtlichen Sinne in Österreich nicht ist) ein konkretes Ablaufdatum zu geben. Nicht um die Einschränkungen dann automatisch enden zu lassen; vielmehr um zu verhindern, dass sie automatisch verlängert und schleichend zur Normalität werden.
Eine Regierung, die demokratische Prinzipien ernst nimmt, muss Maßnahmen, wie sie derzeit in Kraft sind, regelmäßig und in kurz bemessenen Abständen vor der Öffentlichkeit rechtfertigen; mehr noch: sie muss darum werben, diese Maßnahmen fortsetzen zu dürfen, anstatt sie zu verkünden wie die vom Himmel herabgereichten Zehn Gebote.
Das lässt sich klarerweise nicht durch Volksbefragungen entscheiden; wohl aber beispielsweise durch parlamentarische Beschlüsse (wenn nötig mit Zweidrittelmehrheit), die sich auf die Expertise unabhängiger Experten und die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse stützen.
Das war zu Beginn der akuten Krise vielleicht nicht möglich: Die Ereignisse überschlugen sich, das Wissen um das Virus und sein Verhalten war gering. Inzwischen lässt sich vieles besser abschätzen, und man muss nicht mehr befürchten, von einem Augenblick auf den anderen von einer unkontrollierten Dynamik überrollt zu werden.
Somit ist es möglich, den Ausnahmezustand immer aufs Neue auszuverhandeln und transparent zu begründen.
Zu beweisen, dass man das tun und damit Erfolg haben kann, wäre die treffendste und schärfste Kritik an Corona-Autokraten wie Viktor Orbán.