Gastkommentar

Michael Landau über Papst Franziskus: Der Horizonterweiterer

Als hätte die Kirche einen ihrer schärfsten Kritiker an die Spitze gesetzt: Michael Landau, Präsident der Caritas Europa, über den schillernden Papst Franziskus und die Frage, was von ihm bleiben wird.

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Von Michael Landau

Als der neue Papst vom anderen Ende der Welt im Frühjahr 2013 auf den Balkon des Petersdoms hinaustrat und die Gläubigen mit einem einfachen „Buona Sera“ begrüßte, da konnte man schon erahnen, dass die Dinge in Bewegung geraten würden. Der erste Lateinamerikaner auf dem päpstlichen Stuhl. Der erste Jesuit. Selbst der Name, Franziskus, den er als erster Papst in der Geschichte gewählt hatte, war Programm: Gästehaus statt apostolischer Palast. Kleinbus statt Limousine. Einfaches Gewand statt päpstliches Ornat. Ein Papst, der sich „eine Kirche für die Armen“ wünschte. Ein Hirte, der das Volk nicht nur gesegnet, sondern vom Volk selbst gesegnet werden wollte. Ein Pontifex, dessen erste Auslandsreisen nicht in die Regierungssitze der Mächtigen führten, sondern auf eine kleine Insel im Mittelmeer – eine Insel, die kurze Zeit später noch für Schlagzeilen sorgen sollte: Lampedusa.

Franziskus wusch Gefangenen die Füße, er exkommunizierte Mafiosi, er besuchte Armenviertel, und er benannte gleich zu Beginn 15 Krankheiten der römischen Kurie im Vatikan – unter anderem Karrierismus, Arroganz und das Streben nach Macht.

Papst Franziskus war allenfalls so „links“ wie das Evangelium „links“ ist.

Ich begegnete ihm einige Male, zuletzt im Jahr 2023, als er Vertreterinnen und Vertreter der Caritas aus aller Welt in Rom empfing. Mich berührten sein Charisma, sein Lachen, das ansteckend war – die Vorstellung, wonach Glaube zuallererst mit innerer Freiheit, mit Freude und mit Weite zu tun hat. Von diesem Glauben legte Franziskus stets Bekenntnis ab. Er war, was Joachim Wanke, emeritierter Bischof von Erfurt, als „Horizonterweiterer“ beschrieb: einerseits im Sinne einer Globalisierung des Verantwortungsbewusstseins, letztlich im Weltmaßstab, weil es kein Leid gibt, das uns gar nichts angeht. Und andererseits im Wachhalten der Erinnerung, dass wir als Menschen hörend und offenständig unterwegs sind, als „Pilger der Hoffnung“ in aller Vielfalt und Unterschiedlichkeit auf einen Horizont ausgerichtet, den Christen als Vision vom „Reich Gottes“ bezeichnen und bezeugen.

Für mich war Franziskus auch so etwas wie ein Caritas-Papst, dessen Vermächtnis sein wird – davon bin ich überzeugt –, dass er nicht zuallererst die Gläubigen auf den rechten Weg führen wollte, sondern die Kirche selbst. Franziskus wollte Vorbild sein. Nicht von der Kanzel herab, er wollte die Herzen der Menschen erreichen – die Herzen jener, die gläubig sind, aber gerade auch die Herzen derer, die im Abseits der Kirche und im Abseits der Gesellschaft stehen. Der Grundtenor seiner Botschaft lautete stets, dass die Kirche eine bevorzugte Option für die Armen, die Ausgegrenzten haben muss. Oder wie er selbst bei einem Besuch in einem brasilianischen Armenviertel im Juli 2013 gesagt hat: „Werdet nicht müde, für eine gerechtere und solidarischere Welt zu arbeiten!“

Schon mit seinem ersten programmatischen Schreiben „Evangelii Gaudium“ („Die Freude des Evangeliums“) machte der Papst deutlich, dass er die Kirche an ihrem Ursprung ausrichten möchte. „Mir ist eine ‚verbeulte‘ Kirche (…) lieber als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheiten zu klammern, krank ist.“ Immer wieder hatte es den Anschein, als hätte die Kirche, ob bewusst oder nicht, einen ihrer schärfsten Kritiker an die Spitze gesetzt. Gänzlich neu waren diese Töne freilich nicht. Auch der 266. Papst bewegte sich innerhalb einer unübersehbaren Kontinuität kirchlicher Lehre. Dass die Güter der Welt allen Menschen gehören und nicht nur einigen wenigen, ist ein alter kirchlicher Grundsatz, der sich auch in der katholischen Soziallehre wiederfindet. Insofern war dieser Papst allenfalls so „links“ wie das Evangelium „links“ ist.

Doch Franziskus gelang es, diese Lehre von Neuem in ihrer konkreten Bedeutung erfahrbar zu machen. Auch mit seiner Enzyklika „Laudato si“ hat er früher als viele andere darauf hingewiesen, dass die soziale und die ökologische Frage zusammengehören. Als die meisten noch von schlechtem Wetter sprachen, wies Franziskus bereits eindrücklich auf die Folgen der Klimakrise hin – auf die Folgen eines sich selbst überholenden und aushöhlenden Kapitalismus, der Menschen an den Rand drängt, verhungern lässt und zu Vertriebenen macht.

Doch was wird von Franziskus bleiben? Die Erwartungen, die dieser Papst geweckt hat, waren zweifelsohne groß. Und vermutlich war er manchmal rasch, vielleicht zu rasch, mit der Zunge gewesen. Nicht jedes Wort durfte man auf die Goldwaage legen, aber manchmal hat er aus meiner Sicht gerade im Vorbeigehen Wesentliches gesagt: „Wer bin ich, dass ich urteile?“, fragte er etwa, auf das Thema Homosexualität angesprochen. Aber es ist schon wahr: In wichtigen kirchlichen Fragen ist auch unter diesem Papst weniger vorangegangen als von vielen erhofft – auch von mir. Mit dem synodalen Weg gelang es Franziskus zumindest, Weltkirche ein Stück weit neu auszurichten und zu öffnen – weniger Weihrauch, weniger Rom, mehr Mitbestimmung für Laien und für Frauen, gemeinsam hörende Weggemeinschaft. Gewiss keine Revolution, aber eine Öffnung allemal – eine, die so leicht nicht wieder abgewickelt werden kann. Ganz so, als hätte Franziskus geahnt, dass kein Leben und schon gar kein Pontifikat lang genug sein kann, um jene Veränderung herbeizuführen, die sich viele für die Kirche wünschen würden – die sich vermutlich vor allem auch Franziskus selbst für seine Kirche gewünscht hätte.

Dass Franziskus diesen synodalen Weg eingeschlagen hat, machte nur einmal mehr deutlich: Er war nicht der nette, leicht weltfremde Pfarrer aus dem globalen Dorf, als der er zu Beginn öfter beschrieben wurde. Franziskus legte die Finger vielmehr in die Wunden „seiner“ Kirche und dieser Welt. Ganz einfach, weil er wusste, dass eine leidunempfindliche Kirche aufhört, Kirche zu sein, und weil Glaube gerade an den Rändern Gestalt gewinnt. Möge er in Frieden ruhen.

Zur Person

Michael Landau war von 2013 bis 2024 Präsident der Caritas Österreich und ist seit 2020 Präsident der Caritas Europa.