Neutralität schützt – eher – nicht
Von Martin Weiss
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Wenn demnächst Schweden und Finnland dem Nordatlantikvertrag beitreten – die Türkei wird ihren Widerstand gegen diese Beitritte über kurz oder lang aufgeben –, dann sind nur noch vier EU-Staaten nicht bei der NATO: Irland, Malta, Zypern und Österreich. Mit anderen Worten: drei Inselstaaten und eine „Insel der Seligen“. Aber auch über die EU hinaus suchen etwa die Staaten des westlichen Balkans ihr Glück – vor allem aber ihre Sicherheit – in der NATO. So ist etwa Albanien seit 2009 bei der NATO, Montenegro seit 2017 und Nordmazedonien seit dem Jahr 2020.
Kann es sich aber ein Staat, der mitten im Herzen Europas liegt, tatsächlich leisten, dem wichtigsten Sicherheitsbündnis der Welt, dem praktisch alle unsere EU-Partner angehören, nicht beizutreten? Die einfache Antwort darauf lautet: Ja, er kann. Denn niemand wird Österreich zu einem NATO-Beitritt zwingen, das ist und bleibt unsere souveräne Entscheidung. Was aber Österreich heute neu bewerten muss, ist die Frage, welche Entscheidungen und Maßnahmen – angesichts eines russischen Überfallskrieges auf die Ukraine und der sich rasch ändernden europäischen Sicherheitsarchitektur – ein Höchstmaß an Sicherheit für unser Land bieten.
Ob die Neutralität einen Staat tatsächlich schützt, darüber lässt sich lange diskutieren. Die ehrliche Antwort ist aber wohl: eher nicht. Wäre etwa eine neutrale Ukraine nicht Opfer eines russischen Angriffskrieges geworden? Hätte ein russischer Präsident, der offenbar bereit ist, das Leben von Tausenden russischen Soldaten zu opfern – ganz zu schweigen von Tausenden ukrainischen Menschenleben –, davor zurückgescheut, den neutralen Status seines Nachbarn zu verletzen? Möglich, aber doch mehr als unwahrscheinlich. Der Status der „Blockfreiheit“, den die Ukraine bis zum Jahr 2014 innehatte, hat ihr bei der Annexion der Krim jedenfalls nichts genützt.
Eines hat der russische Angriffskrieg auf die Ukraine in aller Deutlichkeit klargestellt: Die NATO beschützt nur die NATO. Der russische Einmarsch in die Ukraine ist ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg, und zahlreiche Staaten, darunter Österreich, stehen der Ukraine heute bei der Verteidigung ihrer Souveränität zur Seite. NATO-Truppen aber, die für die Ukraine kämpfen, NATO-Kampfjets, die eine Flugverbotszone über der Ukraine durchsetzen etc. – all das wird es nicht geben. Sollten sich russische Einheiten hingegen auch nur einen Zentimeter auf NATO-Territorium vorwagen, dann würde sich dieses Bild schlagartig ändern: „Die Vereinigten Staaten und unsere Verbündeten werden jeden Zentimeter des NATO-Territoriums mit der vollen Kraft seiner kollektiven Stärke verteidigen – jeden einzelnen Zentimeter“, so zuletzt US-Präsident Joe Biden bei seiner State-of-the-Union-Rede im US-Kongress.
Finnland und Schweden haben auf die geänderte sicherheitspolitische Landschaft Europas rasch reagiert und daraus ihre Schlüsse gezogen. Für Österreich stellt sich das Bild etwas anders dar. Wenn wir einmal einen aus der Schweiz kommenden Angriff auf Österreich ausschließen wollen, dann kann ein Krieg nur über einen NATO-Staat an Österreichs Grenzen herangetragen werden. Die NATO garantiert also de facto unsere Sicherheit.
Zu diesem NATO-Schutzschirm – um den wir wohlgemerkt nicht gebeten haben – trägt Österreich nichts bei. Er wurde vielmehr dank der politischen Entscheidungen unserer Nachbarn einfach über uns aufgespannt. Jetzt könnte man sich natürlich gemütlich zurücklehnen und sagen: „Glück gehabt, 80 Prozent der Diplomatie sind Geografie, und wir haben eben das Glück, in nächster Nähe friedliebender Partner zu leben.“ Da ist sie wieder, die Insel der Seligen. So leicht wird uns das aber auf Dauer nicht gemacht werden. Denn wir können es uns eben nur aufgrund unserer glücklichen Lage leisten, statt zwei Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes (das ist das erklärte NATO-Ziel, im Falle Österreichs wären das ca. acht Milliarden Euro) derzeit nur rund 0,74 Prozent (also ca. 3,18 Milliarden Euro) für unsere Landesverteidigung aufzuwenden. Die Differenz zahlen gleichsam unsere Nachbarn.
Wenn es mitten in Europa noch Platz für einen neutralen EU-Staat geben soll, der nicht militärisch im NATO-Verbund zur Sicherheit Europas beiträgt, dann nur, wenn dieser Staat seinen Partnern gegenüber glaubhaft darstellen kann, dass dieser Sonderweg mit anderen Leistungen unterlegt wird. Leistungen etwa für die Entwicklungszusammenarbeit, für global zugängliche Impfstoffe, für Flüchtlingshilfe („Hilfe vor Ort“), Nahrungsmittelnothilfe, friedenserhaltende Operationen der Vereinten Nationen, internationale Konferenzen, ein gestärktes diplomatisches Netzwerk etc.
Dann und nur dann können wir unseren Nachbarn in die Augen blicken und sagen: Hier leisten wir ganz konkret unseren Solidaritätsbeitrag. Derzeit sind wir davon weit entfernt – ungefähr vier Milliarden Euro pro Jahr weit entfernt. Wenn Neutralität, dann auch mit allen notwendigen Konsequenzen. Also mit einem zumindest adäquaten – also deutlich erhöhten – Verteidigungsbudget und mit massiven Leistungen in anderen „Soft-Power“-Bereichen. In Amerika würde man sagen: Time to put your money where your mouth is – Zeit, das zu tun, wovon wir immer reden.
Martin Weiss, 59, ist derzeit noch Österreichs Botschafter in den USA und gibt hier seine höchstpersönliche Meinung ab. Der Jurist und Diplomat übernimmt im August die Leitung des „Salzburg Global Seminar“, einer 1947 gegründeten gemeinnützigen Organisation, die als transatlantische Kaderschmiede dient.