Karenzvertretung

Normal- Verschiebung mit Herrn O.

Warum sind manche Ideen für eine Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt denkbar, während andere radikal oder sogar absurd erscheinen?

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In der dreijährigen Arbeit an meinem Dokumentarfilm „Hacking at Leaves“ (der hoffentlich bald Premiere feiern wird, knock on wood!) habe ich mich intensiv mit dem amerikanischen Siedlungskolonialismus, der Navajo-Nation, Covid und dem sozialen Einfluss von Hacker:innen auseinandergesetzt. Eines wurde mir dabei wieder einmal klar: Was in einer Gesellschaft akzeptiert wird und was nicht, bleibt manchmal über Jahrhunderte stabil, egal wie absurd oder horrend die Idee ist – und manchmal kann eine Sichtweise innerhalb kürzester Zeit als Denkmuster vollkommen in sich zusammensacken. Im europäischen Mittelalter gab es beispielsweise schon Atheist:innen, sie führten zu 
jener Zeit aber eine ähnlich verpönte Existenz wie heutzutage Flat-Earth-Weirdos.

Sie waren tatsächlich so weit vom Mainstream entfernt, dass sie nicht einmal als Gefahr für die Autoritäten gesehen wurden. Aber wir brauchen gar nicht so weit in den Strudel der Geschichte zu starren: Cannabis hat sich innerhalb kürzester Zeit vom Tabu zum legalen Geschäftsmodell entwickelt. Das bedingungslose Grundeinkommen avancierte in weniger als einem Jahrzehnt zu einem ernsthaft diskutierten Konzept. Und in Deutschland wurden noch bis 1969 Männer wegen ihrer Homosexualität strafrechtlich verurteilt und in manchen Fällen gar („freiwillig“) kastriert. Jetzt ist die gleichgeschlechtliche Ehe gesetzlich verankert. Um Maria Bill zu zitieren: „Dauernd flieg i midn Kopf an deine Scheibm.“ Und bei mir war es definitiv das Overton-Fenster.

Es gab eine Zeit, als Menschen glaubten, Tomaten seien giftig und könnten den Tod bringen. 

Overton … was?


Joseph P. Overton entwickelte in den 1990ern als Vizepräsident der (libertären) Denkfabrik Mackinac Center for Public Policy ein Denkmodell, das den Bereich gesellschaftlich akzeptabler Ideen beschreiben soll: Ideen innerhalb dieses „Fensters“ gelten als konsensfähig und haben gute Chancen, von der Mehrheit getragen zu werden. Das Konzept entstand aus der Beobachtung heraus, dass viele innovative Ideen nicht ernst genommen werden, weil Politiker:innen keine extremen Positionen vertreten möchten. Dieses Fenster reicht von „undenkbar“ bis „populär“ und ist als bewegliche Skala vorstellbar, die bestimmt, welche Ideen „drinnen“ oder „draußen“ sind. Es ist dabei wichtig festzustellen, dass nicht nur die großen historischen und gesellschaftlichen Bewegungen und Kämpfe hier hineinfallen. Jedes Thema kann auf diese Weise betrachtet werden. Es gab eine Zeit, als Menschen glaubten, Tomaten seien giftig und könnten den Tod bringen. Werden wir einst auch auf den Besitz von benzinbetriebenen Autos mit einer ähnlichen „Häh?“-ichkeit zurückblicken? Ich erinnere nur daran, dass der damalige US-Präsident Bleiche und Pferdeentwurmungsmittel gegen Covid ins Spiel brachte und dass Barbie gerade ein feministisches Blockbuster-Smash-Hit-Icon ist. Da fetzt es dem Fenster schnell mal die Vorhänge weg.


 Der konservative amerikanische Politkommentator Glenn Beck veröffentlichte vor einigen Jahren einen Roman, dessen Plot es war, dass das Overton-Fenster durch eine liberale Verschwörung gezielt verschoben wird. Das 
ist ein bisschen selbstmitleidig, wenn man bedenkt, dass viele rechte Politberater:innen die größte Freude und 
einige Erfahrung mit diesem Prozess haben. Da werden schnell mal kinderbuchlesende Dragqueens zum Zenit des Unvorstellbaren. Die Kommunikationslinie der FPÖ ist ja, zitieren Sie mich gerne, Scheiße an die Wand zu werfen und zu schauen, was kleben bleibt. Aus linker Perspektive frage ich nach dem „Wem nützt es?“. Rechtsextreme versuchen seit Jahren, am Status quo zu schrauben. Eine Strategie besteht dabei darin, das Overton-Fenster zu verschieben, indem noch viel extremere Ideen gefördert werden, um weniger extreme Ansätze vergleichsweise akzeptabel erscheinen zu lassen. Populismus und Propaganda testen Positionen, um mögliche neue Mehrheitsmeinungen zu identifizieren. In jüngster Zeit haben insbesondere Leute im „Alt-Right“-Umfeld etwa hasserfüllte Botschaften als Ironie und Humor getarnt, um die Verbreitung dieser Botschaften im Netz zu beschleunigen. Ich sage nur: Christchurch. Da geht dann die vermeintliche Ironie in Blut unter.
 Die Schönheit (und die Herausforderung) des Overton-Fensters liegt in seiner Flüchtigkeit. Während es treffend beschreibt, was in einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt akzeptiert wird, sollte man doch nie vergessen, dass diese Akzeptanz nicht zwangsläufig ein Zeichen dafür ist, was moralisch richtig oder im besten Interesse der Mehrheit ist. Dieser Unterschied zwischen gesellschaftlicher Akzeptanz und ethischem Wert kann leicht übersehen werden, ist aber von entscheidender Bedeutung.

Johannes  Grenzfurthner

Johannes Grenzfurthner

Johannes Grenzfurthner ist Gründer des Kunst-Kollektivs monochrom und schreibt als Karenzvertretung von Ingrid Brodnig.