Kolumne

Nüchtern vorwärts

Alle sollen immer optimistisch sein. Dabei hilft gegen Probleme nur eines: denken, arbeiten, machen.

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In seinem Meisterwerk „Das Prinzip Hoffnung“ gab der deutsche Philosoph Ernst Bloch den schönen Hinweis, dass die Menschheit mehr „ins Gelingen verliebt sein möge“. Das ist richtig. Im Alltag der sozialen Netzwerke und der gegenseitigen guten Ratschläge ist daraus das geworden, was man Zweckoptimismus nennen kann: Weil es nichts helfen würde, wenn alle nur immer kritisieren, was nicht läuft, sollte man am besten immer nur die Sachen erwähnen, die gut sind, nett und erhellend.

Nichts gegen das Gute, Erhellende und gegen die Netten – aber das ist Blödsinn. Darin drückt sich nämlich jene allgemeine Faulheit des Denkens und Handelns aus, die für die späte Konsumgesellschaft so typisch ist. Niemand will gestört werden, deshalb halten alle das Wasser, das uns bis zum Hals steht, für den Teil eines Wellnessprogramms.

Optimismus wird dabei genauso konsumiert wie Moral, Semmeln oder Flugreisen. Die Botschaft, die damit verbunden wird, sieht aus wie eine Szene in einem Film, in dem reiche Leute in ihrer Stadtvilla sitzen beim Frühstücken und beiläufig auf das Elend auf den Straßen schauen müssen. Sagt die Dame des Hauses zum Butler: „James, machen Sie die Vorhänge zu, ich kann das Elend nicht ertragen!“

Es gibt – das haben wir an dieser Stelle schon vor mehr als einem Jahr festgehalten – eine menschliche, eine gesellschaftliche Verpflichtung zum Hoffen. Hoffnung ist, dass das, was nötig ist, auch geschieht. Hoffnung ist nicht, sich von den Problemen der Welt – vom Klima bis zur Kanzlerwahl – ablenken zu lassen, davon, wie es ist. Das nennt man Realitätsflucht.

Die Realität lacht sich eins. Sie hat nicht die Absicht, den Raum zu verlassen, nur weil der gnädige Herr oder die gnädige Frau das Elend nicht ertragen kann.

Schönreden ist eine solche Realitätsflucht. Sie will gar nicht, dass sich die Dinge ändern, sie will nur nichts mit ihnen zu tun haben. Die Realität lacht sich eins. Sie hat nicht die Absicht, den Raum zu verlassen, nur weil der gnädige Herr oder die gnädige Frau das Elend nicht ertragen kann. Im Gegenteil. Sie breitet sich aus, dann aber unbemerkt. Die Realitätsflucht führt dazu, dass Probleme größer werden. Putin freut’s, wenn der Westen wegschaut, wie er die Ukraine abschlachtet, und die Hamas und die Mullah-Terroristen freut’s, wenn sich junge Bürgerkinder in der ganzen Welt, die viel Geld, aber wenig Verstand haben, auf ihren Eliteuniversitäten zu antisemitischen Pogromen zusammenfinden. Und, ein paar Nummern kleiner, aber groß genug: Bürokraten freut es, wenn die Leute lieber Yoga machen, statt ihnen die Leviten zu lesen. Und erst recht die ganzen Bullies im Alltag, die ihre Frauen und Kinder hauen, die Chefs, die gerne unter sich bleiben, die Ignoranten, die sich einen Dreck um andere scheren. Für sie alle ist der Zweckoptimismus eine der großen Erfindungen unserer Zeit. Das Böse freut sich, wenn man es nicht erwähnt, das Gute hingegen geht dabei unter.

Ein Teil der Propaganda, mit der China und Russland (und andere) uns überziehen, besteht in jenem Einlullen der Seele, mit dem sich am meisten machen lässt für Diktaturen. Die Seele kann man nämlich auch Gemüt nennen, Gefühl. Die Leute sollen das Gefühl kriegen, dass das mit dem Krieg und der Diktatur eh nicht so arg sei – bis sie selber dran sind. Das ist wichtiger als 100 Divisionen, denn wer sich in Sicherheit wiegt und das Böse nicht nüchtern erkennt, ist ein leichtes Opfer. Wer das nicht sagt, spielt dem Bösen in die Hände. Und das Böse, damit auch das klar ist, besteht aus Menschen, die anderen zu ihrem Vorteil die Freiheit und alle Chancen rauben. Die nicht die Absicht haben, andere sein zu lassen, wie sie sind. Naivität tötet. Nüchternheit siegt.

Zurück zu Bloch: Ins Gelingen verliebt sein, das hat mit dem Schönreden und Wegschauen unserer Zeit nichts zu tun. Es bedeutet harte Arbeit, intervenieren, experimentieren, nicht lockerlassen, geduldig gegen die Dummheit und Unzulänglichkeit dieser Welt ankämpfen, das Böse beim Namen nennen – und hoffen, dass die Guten gewinnen. Das war für Bloch nach dem Zweiten Weltkrieg, den der von den Nazis verfolgte Denker knapp überlebte, keine abstrakte Angelegenheit. Er war ins Gelingen verliebt, weil es zu etwas führte. Und das war mehr als ein bisschen Wellness fürs Gewissen, womit man sich kurzfristig besser fühlt, um langfristig auf die Schnauze zu fallen. Wer sich freuen will und echte Zuversicht spenden, der sollte wissen: Dafür muss man denken, arbeiten, handeln.

Wolf  Lotter

Wolf Lotter

ist Autor und Journalist und schreibt einmal monatlich eine Kolumne für profil, wo er von 1993 bis 1998 Redakteur war.