ÖVP und Grüne: Streitet!
Ein Thema für den Leitartikel dieser Woche? Wie zuletzt schon wäre Afghanistan vieler Erklärungen bedürftig. Oder Sebastian Kurz, sein Parteitag, seine Wiederwahl nach vier Jahren. Man könnte auch versuchen, dem Titelthema über das gekonnte Entschuldigen noch ein paar Gedanken abzuringen. (Erschreckend augenfällig: das Auseinanderfallen der Gepflogenheiten in Deutschland und in Österreich – beginnend mit der Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg und herauf bis in die Gegenwart des jeweiligen christlich-sozialen Spitzenpersonals.) Oder doch die immer schwierigere Position des Juniorpartners in der Bundesregierung?
Versuchen wir, aus all dem ein Gemeinsames abzuleiten, indem wir uns die türkis-grüne Koalition genauer ansehen! Dieser Blick kam in den vergangenen eineinhalb Jahren zu kurz, und daran waren zwei Faktoren schuld: Zunächst war das Land – soweit prinzipiell artikulationswillig – noch shell-shocked von der Ibiza-Bombe und reziprok
erleichtert über eine neue Regierungspartei, die unzweifelhaft auf der richtigen Seite des Verfassungsbogens verortet ist. Drei Monate nach Regierungsbildung kam Corona wie eine biblische Plage über die Welt und verdrängte alles andere aus dem Blickwinkel. Wie wenig es da zwischen zwei vergleichsweise verantwortungsbewussten Parteien zu streiten gibt („vergleichsweise“ bezieht sich auf die realitätsnahe Vorstellung, Herbert Kickl hätte in dieser Zeit die Fäden gezogen), sieht man am Corona-Management in diesen Tagen: In der entscheidenden Frage nach einer Impfpflicht agieren Türkis und Grün kongruent, niemand wagt, die entsprechende Notwendigkeit auszusprechen – wie im Übrigen kein Regierungschef in der Europäischen Union und in Nordamerika. (In China liegt das eher an der mangelnden Effektivität des Impfstoffes, im Rest der Welt am Fehlen desselben.)
Das Wort „Streiten“ muss im Fokus einer Analyse der Koalition stehen. Ich finde es bedauerlich, dass dieses Streiten bisher nur in Spurenelementen vorhanden war (und dann meist begründet in taktischem Hickhack). Umso mehr freut es, dass die beiden Parteien sich nun endlich regelmäßig in die Wolle kriegen: Das ist der Wahrhaftigkeit zuträglich, und die Wahrheit ist dem Menschen nicht erst seit Ingeborg Bachmann zumutbar.
Die Abwesenheit der Wahrhaftigkeit schadet dem Land, seit Sebastian Kurz und Werner Kogler ihre Unterschriften unter den Koalitionspakt gesetzt haben. Bekanntlich sind diese beiden Parteien wie Feuer und Wasser, was viele von uns für ein immanent fatales Grundübel halten, was ich hingegen als eine Grundvoraussetzung sehe, um wichtige Dinge weiterzubringen.
Während Volkspartei und Sozialdemokraten zankten, weil sie sich in ihrem Politikverständnis so ähnlich waren, müssen Volkspartei und Grüne streiten, weil sie mit ihren beiden zentralen Themen so gegensätzlich positioniert sind: Umweltschutz (der heute längst „Klimakatastrophe“ heißt) und Ausländer (was nun unter „Flüchtlinge“ firmiert). „Umwelt“ war bei den Grünen das Gründungsvokabel. Bei der Volkspartei hingegen steht Umwelt in einem Spannungsfeld zur Klientel der Unternehmer. „Ausländer“ wiederum ist für die Grünen ein Sinnbild für ihr liberales (ursprünglich utopisches) Gesellschaftsbild. Bei der Volkspartei hingegen steht das Fremde im Wort „Ausländer“ im Widerspruch zum bewahren wollenden Konservativismus. Vor allem aber und näher liegend verhalf und verhilft die restriktive Migrationspolitik Sebastian Kurz ins Kanzleramt.
Vor einigen Wochen brach der schwelende Disput endlich aus. Leonore Gewessler stellte ihre Klimapolitik auf scharf, was die Industrie aufheulen und den Kanzler mit dem Wort „Steinzeit“ outrieren ließ. An der anderen Ecke macht Afghanistan die Grenzen sichtbar: Der Vizekanzler spricht dem Koalitionspartner die „Menschlichkeit“ ab, ein grüner Landesrat sagt „Schande“ über den Null-Aufnahme-Kurs der ÖVP.
Der Charme dieser Auseinandersetzungen: Sie müssen ausgefochten werden. Die Drohung mit einer schmutzigen Scheidung ginge ins Leere. Beide Parteien wollen regieren, beide können keine andere Mehrheit finden.
Migration und Umwelt sind Determinanten für das Fortkommen der Menschheit. Im Konflikt zwischen In- und Ausländern, über Eingesessene und Hinzugekommene, über ethnische und religiöse Zugehörigkeit entzünden sich Kriege und zerfallen Staaten. Mit „Ausländer“ als Zunder versuchen rechtsextreme Parteien, die westlichen Demokratien sturmreif zu schießen. Die Klimapolitik andererseits entscheidet gesamthaft über das Bestehen der Welt und das Überleben aller. Da braucht es die Dialektik von grüner Vision und kapitalistischen Mitteln.
Streitet!
[email protected]
Twitter: @chr_rai